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Und dann der Himmel

Und dann der Himmel

Titel: Und dann der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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Marco weigert sich ja, mit ihm zu reden. Zum Schluss waren sein Schreibtisch und der Boden übersät mit zerknitterten Papierkugeln, und alles, was er auf den letzten Briefbogen geschrieben hatte, war: „Lieber Marco, es tut mir Leid. Bitte, glaub mir.“ Frustriert hat Finn die armselige Zeile angestarrt und darüber nachgegrübelt, wieso es ihm nicht gelang, seine Gefühle in eine überzeugende Schriftform zu verpacken. Dabei hätte er so viel zu sagen gehabt, aber aneinander gereihte Buchstaben auf einem weißen Blatt schienen dem, was er empfand, nicht gerecht zu werden. Trotzdem hatte er den Brief in ein Kuvert gesteckt, adressiert und mit einer Briefmarke beklebt. Dann war er auf sein Fahrrad gestiegen und hatte die Abkürzung über den kleinen Feldweg genommen, dessen Ränder im Sommer mit Mohnblüten überwuchert sind. Doch kurz vor dem Postkasten am Dorfrand hatte ihn sein Mut verlassen und er hatte den Brief zerrissen und die Schnipsel in den Wind geworfen.
    Das Badewasser hüllt mittlerweile Finns Waden ein und leckt an seinen Oberschenkeln. Finn reguliert die Temperatur und lässt noch mehr Wasser einlaufen. Dann greift er hinter sich und angelt nach einer Flasche mit Badezusatz. Die ölige Flüssigkeit färbt das Wasser hellblau und lässt vereinzelte Schaumkronen entstehen, die sich höher und höher türmen, wie kleine, vulkanische Inseln in einem tropischen Ozean. Finn schließt die Augen und stellt sich vor, er läge in der sanften Brandung eines Karibikstrandes. Wenn er sich Mühe gibt, kann er sogar die leisen Wellenbewegungen hören, ein beruhigendes Plätschern, das seine Angst im Zaum hält. Die Illusion ist so perfekt, dass er glaubt, ein Schwarm Fische streifte seinen Oberarm, aber es ist nur der Badeschwamm.
    Finn lehnt sich zurück und genießt die wohlige Wärme, die ihm jetzt bis über die Schultern reicht. Fast schwerelos kann er sich unter Wasser machen und für ein paar Augenblicke die Leichtigkeit zurückholen, die er vermisst, seit Marco ihn aus seinem Leben geworfen hat. Er bläst in die Schauminseln und beobachtet, wie kleine, weiße Wolken aus Seifenlauge durch das Bad schweben, auf der Badematte und dem Rasierzeug landen und feuchte Flecken hinterlassen, wenn sie sich in nichts auflösen.
    Für ein paar Minuten konzentriert sich Finn ganz auf seine Atmung. Ein Trick, den er vor Jahren einmal in einem Yogakurs gelernt hat. Er lässt seine Gedanken los und lenkt seine ganze Aufmerksamkeit auf die Luft, die bei jedem Atemzug durch seine Lungen strömt. Angeblich werden Körper und Seele dadurch eins. Finn hat nie begriffen, was das bedeuten soll, aber er hat festgestellt, dass die Atemübungen ihm in Krisensituationen helfen, ruhiger zu werden und den Blick auf das Wesentliche nicht zu verlieren. Was aber, wenn es dafür zu spät ist? Wenn er das Wesentliche schon verloren hat? Worauf soll er seinen Blick dann richten? Finn kramt in seiner Erinnerung nach einem passenden Mantra, ein paar Worten, die ihm helfen, Stärke und Gleichmut zu finden. Wie gerne hätte er ein starkes Herz! Aber es nützt nichts, immer wieder drängt sich Marcos Gesicht in seine Bemühungen und spukt wie ein Geist in seinem Kopf herum.
    Schließlich gibt Finn auf. Er hat genug von seinem Selbstmitleid. Entschlossen setzt er sich auf, massiert sich Shampoo in die Haare und spült es anschließend mit klarem Wasser ab. Schon fühlt er sich besser.
    Dann greift er zu der Rasierklinge, die er vorher auf den Rand der Badewanne gelegt hat, hält seinen linken Arm unter Wasser und schneidet sich mit zwei raschen Schnitten die Pulsadern auf. Der erste Schnitt fühlt sich an wie der Biss eines Piranhas, der zweite tut nicht mehr weh. Für einen kurzen, irritierenden Augenblick hat Finn das Gefühl, nicht allein im Raum zu sein, als beobachte ihn jemand und missbillige seine Handlung. Er ist versucht, sich umzublicken, aber er wird träge und müde. Nach einiger Zeit rutscht er mit seinem Kopf unter die Wasseroberfläche.
    Sein Blut vermischt sich mit dem Blau des Ozeans und färbt das Badewasser violett.
    Mitten in der Nacht wache ich auf. Im Schlaf habe ich mich frei gestrampelt, meine Bettdecke und mein Kopfkissen liegen auf dem Boden. Ich habe schlecht geträumt.
    Etwas treibt mich erneut in Rafaels Zimmer. Ich will ihm nur beim Schlafen zusehen, vielleicht überträgt sich etwas von der Ruhe, die er ausstrahlt, auf mich. Mein Herz pocht wild, als ich so leise wie möglich die Tür zwischen unseren Zimmern ein

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