Und dann der Himmel
zieht die Augenbrauen hoch und grinst.
„Was wird ihm denn vorgeworfen?“ mischt sich Anja ein.
„Er hat die öffentliche Ordnung gestört. Um genau zu sein, er hat die Frühmesse im Dom unterbrochen und den Pfarrer daran gehindert, die Hostien zu verteilen.“
„Wie bitte?“ frage ich entgeistert.
„Herr Caravaggio hat nach Angaben von Zeugen während der Messe den Pfarrer beiseite geschubst und behauptet, dass …“, der zweite Polizist zieht einen Notizblock zurate, „dass die Kirche zu viel Wert auf Symbolismus lege und doch niemand im Ernst daran glauben könne, mit der Hostie ein Stück vom Leib Jesu Christi zu essen. Das sei Kannibalismus. So habe es der Sohn Gottes nie gemeint. Der Priester hat fast einen Herzinfarkt erlitten und ein paar ältere Damen waren nahe daran, in Ohnmacht zu fallen.“
„Oh … äh … wissen Sie, Rafael ist evangelisch“, stottere ich. „Das sind ja im Grunde noch Ketzer. Sie wissen schon, damals die Sache mit Luther. Die sind in Glaubenssachen doch sehr liberal.“
„Evangelisch?“ erwidert der andere Polizist zweifelnd. „Ich dachte, in Italien sind alle Leute katholisch.“
„Ja, aber nicht in Südtirol. Jedenfalls nicht im protestantischen Teil.“ Ich habe keine Ahnung, wovon ich rede. Eigentlich weiß ich nicht mal genau, wo Südtirol liegt, geschweige denn, ob es dort eine protestantische Enklave gibt.
Der Polizeibeamte seufzt. Er hat offensichtlich keine Lust, am frühen Morgen und noch dazu in der Vorweihnachtszeit in eine Diskussion über Glaubensfragen hineingezogen zu werden. „Also schön“, sagt er skeptisch und sieht seinen Kollegen abwartend an, bis dieser zustimmend nickt. „Ihr Freund kommt mit einem Verwarngeld von sechzig Euro davon. Ob die Kirche noch andere Schritte gegen ihn einleitet, bleibt abzuwarten. Und von mir persönlich erhält er den Rat, sich während seines restlichen Besuchs vom Dom fernzuhalten! Ist das klar?“
Ich nicke so lange eifrig, bis auch Rafael sich zu einem gequälten „Ja“ durchringt. Der Polizist füllt einen Bußgeldbescheid aus und drückt ihn Rafael in die Hand. Dann verabschieden sich die Beamten und verschwinden kopfschüttelnd im Treppenhaus.
Wir zerren Rafael in die Wohnung. Anja lässt sich auf einen Küchenstuhl fallen und brüllt vor Lachen. „Das war wirklich eine filmreife Nummer, Marco“, japst sie, als sie sich beruhigt hat, „Rafael Caravaggio, ein Italiener aus dem protestantischen Teil Südtirols! So was Bescheuertes habe ich noch nie gehört! Und die Bullen haben es auch noch geglaubt!“ Noch immer kichernd schleppt sie sich zur Kaffeemaschine. „Eigentlich könnte ich jetzt einen Cognac vertragen, aber in Anbetracht der Uhrzeit setze ich lieber mal Kaffee auf. Noch jemand?“
„Ja, gerne. Mit Milch und Zucker und einem Spekulatius“, erwidert Rafael und bringt damit bei mir das Fass zum Überlaufen.
„Du!“ schreie ich ihn an. „Hast du eigentlich noch alle Tassen im Schrank? Das Bett leer, die Laken zerwühlt und nirgendwo eine Nachricht!“ Eine leise Stimme in meinem Hinterkopf sagt mir, dass ich mich mal wieder wie ein gehörnter Liebhaber anhöre und gerade lächerlich mache, denn anders als bei Finn habe ich gegenüber Rafael schließlich keine Besitzansprüche. „Wieso rennst du mitten in der Nacht in den Dom?“ frage ich und zwinge mich, etwas ruhiger zu werden. „Hättest du nicht Bescheid sagen können?“
„Ich wollte den Tag mit einer Lobpreisung Gottes beginnen. So, wie ich es immer tue“, sagt Rafael. „Der Dom schien mir der geeignete Ort zu sein.“
„Lobpreisen? Wozu? Ich dachte, du wärst verbannt worden“, wirft Anja ein.
Rafael zuckt mit den Schultern. „Gott ist Gott. Er mag manchmal ein wenig unbeherrscht sein, aber er ist immer noch der Schöpfer und mein oberster Dienstherr.“
Anja sieht Rafael nachdenklich an. „Du glaubst wirklich, was du sagst, oder? Du glaubst wirklich, dass du ein Engel bist!“
„Ich bin ein Engel!“ betont Rafael und zündet sich genüsslich eine der Zigaretten an, die Patrick letzte Nacht auf dem Küchentisch hat liegen lassen. „Übrigens, da wir schon dabei sind: Die korrekte Bezeichnung ist Erzengel. Das ist noch eine Stufe drüber, quasi der gehobene Dienst. So viel Zeit muss sein.“
„Und wieso musstest du die Frühmesse sprengen und den Leuten deine persönliche Auffassung vom richtigen Glauben unter die Nase reiben, Erzengel?“ frage ich sarkastisch. „Hättest du nicht einfach in einer
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