Und dann der Himmel
unbeliebt zu machen, was?“ blaffe ich ihn an. „Urlaubsfahrt! Dass ich nicht lache!“ Nicht nur, dass ich Rafael und meine Schwester samt ihren Blagen am Hals habe, jetzt soll ich auch noch meine Eltern besuchen! Langsam frage ich mich, womit ich das verdient habe. Nie wieder werde ich ein Stoßgebet aussprechen!
Gegen die vereinte Front von Rafael und meiner Schwester ist mein Widerstand auf Dauer natürlich zum Scheitern verurteilt. Nachdem sie mich eine Viertelstunde lang ununterbrochen vollgequatscht haben, gebe ich nach, wenn auch ungnädig. Sabine verschwindet, um sich für die wenigen verbliebenen Stunden der Nacht auf die Couch im Kinderzimmer zu legen. Als sie gegangen ist, ziehe ich mich wortlos an und mache ebenfalls Anstalten, das Gästezimmer zu verlassen.
„Jetzt komm wieder ins Bett!“ sagt Rafael belustigt und klopft auf das Laken. „Oder bist du immer noch sauer?“
„Wenn du glaubst, dass ich mit dir fertig bin, dann hast du dich geschnitten“, erwidere ich. „Vielleicht werde ich dich nicht so schnell los, wie ich gehofft habe, aber ich werde es nicht mehr zulassen, dass du in meine Träume und Gedanken einbrichst!“
„Ach“, erwidert Rafael, „und wie willst du das anstellen?“
„Ich werde einfach nicht mehr schlafen“, sage ich entschlossen.
Während die Tür hinter mir zuschlägt und ich ins Wohnzimmer hinuntergehe, um die Zeit bis zum Morgen mit einem Buch totzuschlagen, höre ich Rafaels Lachen hinter mir verklingen.
5. Revoluzzer
Als der nächste Morgen anbricht, beginnt es zu schneien. Anfangs fallen einzelne, dicke Schneeflocken, die sich am Boden in Nichts auflösen, dann kommt Wind auf und der Niederschlag beginnt dichter zu werden, bedeckt alles mit einer feinen Schicht aus weißem Puder.
Schnee ist ein großer Gleichmacher. Das, worauf er liegen bleibt, erhält eine Reinheit, die fast unschuldig wirkt. Dunkle Tannen, braune, matschige Erde, selbst der hässliche Rohbau neben Sabines Haus sieht verzaubert und geheimnisvoll aus. Die Umrisse und Strukturen der rauen Heidelandschaft werden sanfter und undeutlicher, scharfe Kanten und Ecken verschwinden, als hätte jemand die Natur mit einem Weichzeichner fotografiert. Noch ist es fast dunkel; trotzdem ziehe ich die Gardine beiseite und beobachte, wie sich die Welt in der Dämmerung langsam in eine Märchenlandschaft verwandelt. Überall herrscht eine friedvolle, angenehme Stille.
Für einige Minuten genieße ich die Ruhe, aber dann werden meine Augen schwer; das unablässige Schneegestöber lässt meine Aufmerksamkeit wandern und lullt mich ein. Der Schlafentzug, den ich meinem Körper zumute, macht sich bemerkbar. Vor zehn Jahren haben mir ein oder zwei durchgemachte Nächte keine Probleme bereitet, es war alles nur eine Frage der richtigen Partys. Schlafen war eine Nebensächlichkeit, die man nachholen konnte, wenn man alt war. Langsam jedoch scheinen sich meine Prioritäten zu ändern. Außerdem gibt es hier in der Wildnis keine Partys und schon gar keine Drogen, um mich wachzuhalten – es sei denn, Heidekraut hat eine aufputschende Wirkung, von der ich nichts weiß. Trotzdem gebe ich meiner Müdigkeit nicht nach, denn jetzt, nachdem ich endgültig die Kontrolle verloren habe, fürchte ich mich vor dem, was in meinen Träumen geschieht. Mein Vorsatz, nicht mehr zu schlafen, war durchaus ernst gemeint.
Energisch reibe ich mir die Augen und atme erleichtert auf, als mir im oberen Stockwerk ein Türklappen signalisiert, dass die Nachtruhe vorbei ist. Simon steht im Schlafanzug auf der Treppe, hüpft aufgeregt von einem Bein aufs andere und mustert mich im Halbdunkel. Als er erkennt, dass ich es bin, lässt mein Neffe die Schultern hängen.
„Du bist nicht der Weihnachtsmann“, stellt er fest.
„Nein, natürlich nicht“, antworte ich. „Wie kommst du darauf?“
Simon patscht mit nackten Füßen die Stufen herunter. „Es ist fast Heiligabend und es schneit. Ein Engel ist auch schon angekommen. Also hab ich gedacht, der Weihnachtsmann muss jetzt bald aufkreuzen“, erklärt er mit kindlicher Logik und so ungeduldig, als wären seine Schlussfolgerungen offensichtlich. „Aber du bist nur Marco. Blöd.“
„Dankeschön“, erwidere ich trocken, aber Sarkasmus ist gegenüber meinem jungen Neffen die reine Verschwendung. Ich gehe in die Küche, um mir einen extra starken Kaffee aufzusetzen.
Simon folgt mir und setzt sich an den Tisch. „Ich habe Hunger!“ erklärt er und sieht mich auffordernd an.
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