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Und dann der Himmel

Und dann der Himmel

Titel: Und dann der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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„Ich bin ein Engel.“
    „Ein Engel?“ wiederholt Finn ungläubig. „Dafür sind deine Flügel aber ziemlich mickrig“, rutscht es ihm dann heraus.
    „Ich weiß“, sagt Rafael peinlich berührt und schlägt zweimal mit den Flügeln, als ob er beweisen müsste, dass sie funktionstüchtig sind. „Sie sind noch nicht ganz ausgewachsen. Tut mir Leid. Dich habe ich aber anscheinend auch nicht in Bestform angetroffen“, fügt er etwas flapsig hinzu. „Ich meine, du bist dir schon darüber im Klaren, dass Erhängen eine ziemlich unappetitliche Form des Selbstmords ist, oder? Blaugeschwollene Zunge, herausquellende Augen, die Gedärme und die Blase entleeren sich … eine ziemliche Sauerei, vor allen Dingen für diejenigen, die hinterher alles wegräumen müssen.“
    „Willst du mich davon abhalten?“ fragt Finn gereizt.
    Rafael hebt abwehrend die Hände. „Keine Spur! Es liegt gar nicht in meiner Macht, das zu tun. Die wichtigste Eigenschaft, die mein Chef den Menschen mitgegeben hat, als er sie erschuf, ist der freie Wille. Ihr könnt tun und lassen, was ihr wollt. Hin und wieder kann man versuchen, euch in die richtige Richtung zu schubsen, das ist aber auch alles. Der Haken an der Sache ist, dass ihr euch hinterher für eure Taten verantworten müsst.“
    Finn schnaubt gegen seinen Willen belustigt auf. „Gegenüber wem? Wann?“
    „Na, gegenüber Gott! Hast du noch nie vom Jüngsten Gericht gehört?“
    „Das ist doch Blödsinn!“ sagt Finn.
    Rafael zuckt mit den Achseln. „Wenn du nicht daran glaubst, kannst du ja weitermachen. Wie gesagt, ich werde dich nicht davon abhalten. Müßiggang ist aller Laster Anfang! Bitteschön!“ Er streckt die Hand zu einer auffordernden Geste aus. Finn kommt sich vor, als wäre er Gast in einer dieser Gameshows, in der er dreißig Sekunden Zeit hat, seine Geschicklichkeit bei einer absurden Aufgabenstellung zu beweisen.
    „Ich kann das nicht vor Publikum“, sagt er schließlich.
    „Gut“, sagt Rafael erfreut, „dann hätten wir das ja geklärt. Notfalls kannst du ja immer noch weitermachen, wenn ich wieder weg bin. Übrigens habe ich ziemlichen Durst. Hättest du nicht ein Glas Saft für mich, wenn du dich schon entschlossen hast, unsere Unterhaltung fortzusetzen?“
    Finn kann sich zwar nicht erinnern, einen derartigen Entschluss gefasst zu haben, aber Rafaels Bitte trifft ihn so unvorbereitet, dass er die Schlinge schon vom Hals genommen hat und vom Stuhl geklettert ist, um aus der Küche einen Orangensaft zu holen, bevor er überhaupt merkt, dass Rafael ihn damit übers Ohr gehauen hat.
    Er sieht seinen Gast missmutig an und sagt dann: „Also schön, dann komm mit nach unten!“ Er nimmt sich vor, Rafael so schnell wie möglich nach draußen zu bugsieren und dann da weiterzumachen, wo er aufgehört hat. Beim nächsten Mal wird er allerdings die Dachluke nicht mehr offen lassen.
    Zusammen klettern die beiden vom Dachboden, und während sich Rafael in der Küche an den Tisch setzt und eine Zigarette aus Finns Packung stiehlt, stellt Finn ein Glas Orangensaft auf seinen Platz. Bei dem Versuch, gleichzeitig zu rauchen und zu trinken, verschluckt sich Rafael, und Finn muss ihm mehrmals auf den Rücken klopfen, bis er wieder Luft bekommt.
    „Danke“, sagt Rafael und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel, „geht schon wieder.“
    „Ich habe noch nie gehört, dass Engel rauchen“, erklärt Finn.
    „Ich rauche. Die anderen nicht. Ich bin sozusagen die Ausnahme von der Regel.“
    „Hoffentlich“, erwidert Finn ironisch. Es ist das erste Mal seit Wochen, dass so etwas wie Humor in seiner Stimme aufblitzt. „Wenn alle Engel so wären wie du, müsste ich meine religiösen Vorstellungen einer Komplett-Renovierung unterziehen.“
    Rafael schmunzelt. „Erzähl mir, wie es dazu gekommen ist“, sagt er und gestikuliert vage mit seiner Hand in Richtung Dachboden.
    „Warum willst du das wissen?“
    „Einfach so. Ein bisschen Smalltalk.“
    „Ich will nicht darüber sprechen, es geht dich nichts an“, sagt Finn. „Trink deinen Saft und verschwinde.“
    „Ach, jetzt komm schon“, nörgelt Rafael. „Ich mag tragische Geschichten.“
    Finn schüttelt den Kopf. „Ich habe lange genug mit meinen Dämonen gekämpft“, sagt er leise. Der Schalk ist aus seiner Stimme verschwunden, als wäre er nie dagewesen. „Die Leichen in meinem Keller sind sortiert, geordnet und verstaut. Ich habe keine Lust, alles noch einmal auszupacken.“
    „Dämonen und Leichen“,

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