Und dann der Himmel
Möglichkeit, einen objektiveren Blickwinkel auszuprobieren. Ich bemerke, dass Vorwürfe dieser Art einen nörgelnden Unterton haben, der zu viel Angriffsfläche bietet und zum Widerspruch reizt. Habe ich mich auch so angehört?
Natürlich nutzt Klaus diese versteckten Hinweise auf die Verwundbarkeit meiner Schwester aus. Sein Gegenangriff enthält Sprüche wie „Es hat nichts zu bedeuten …“, „Du machst aus einer Mücke einen Elefanten …“ und „Du bist doch selber schuld! Wenn du nicht …“. Dabei wird die Verfehlung zwar nicht geleugnet, aber verniedlicht, klein geredet, beinahe ins Lächerliche gezogen und die Verantwortung für die Tat unterschwellig meiner Schwester in die Schuhe geschoben. Das natürlich hat nur noch mehr Vorwürfe zur Folge.
Noch während ich meinem Schwager mit wachsender Empörung zuhöre, fällt mir auf, dass sich der Streit genauso entwickelt wie meine Auseinandersetzungen mit Finn. Die Worte sind fast identisch – wenn ich wollte, könnte ich den Text mitsprechen – und Klaus hat genauso wenig Unrechtsbewusstsein wie mein Exfreund. Finn allerdings hat noch die Frechheit besessen zu behaupten, er sei unschuldig. Ebenso wie ich wird Sabine mit ihren Vorwürfen ihrem Mann keine Entschuldigung und kein Versprechen der Besserung entlocken.
Und dann wird mir plötzlich klar, dass es genau das ist, was ich eigentlich von Finn hören wollte: eine Bitte um Vergebung und die Erklärung, dass er mich noch immer liebt. Vor Schreck fällt mir beinahe die Kaffeetasse aus der Hand. Ja, ich wollte ihn wie einen Wurm auf dem Boden kriechen sehen; wie bei einem mittelalterlichen Duell wollte ich Satisfaktion und die Wiederherstellung meiner Ehre – aber ich wollte Finn auch zurückhaben. Doch eine solche Form der Auseinandersetzung ist eine Spirale, die sich immer weiter nach oben schraubt und keinem der Kontrahenten die Möglichkeit bietet, das Gesicht zu wahren – und das ist die wichtigste Voraussetzung, um einen Streit gütig zu beenden.
Am liebsten würde ich aufspringen, an die Tür trommeln und beide beschwören, sich noch einmal zusammenzuraufen, aber natürlich kann ich mich nicht dazu überwinden, denn eigentlich geht mich ihr Krach ja gar nichts an. Meine Erkenntnis kommt mir peinlich vor und außerdem ist es sowieso zu spät. Wie ich es vorausgesehen habe, fühlt sich meine Schwester durch Klaus’ lakonische und abwertende Antworten in die Ecke gedrängt und fängt an, ihn anzuschreien. Er brüllt zurück, Beschimpfungen fliegen hin und her, ein wenig Geschirr geht zu Bruch, neben mir beginnen Simon und Annika zu weinen und dann ist auch schon alles vorbei.
Die Küchentür fliegt auf und Sabine stürmt wutentbrannt ins Wohnzimmer, nimmt ihre Tochter auf den Arm und ihren heulenden Sohn an die Hand. „Keine Sekunde länger bleibe ich in einem Haus mit diesem schwanzgesteuerten Mistkerl!“ flucht sie. „Wann können wir fahren? Ist Rafael endlich wach?“
„Sabine“, sage ich vorsichtig. „Bist du sicher, dass du das willst? Vielleicht wäre es besser, wenn ihr beide noch mal in Ruhe …“
„Jetzt fall du mir auch noch in den Rücken!“ schnauzt sie mich an. „Nehmt ihr uns jetzt mit oder nicht?“
In diesem Moment fliegt die Küchentür ein weiteres Mal auf und Klaus kommt zu uns. „Von mir aus kannst du ruhig gehen!“ schreit er Sabine an. „Aber die Kinder bleiben hier!“ Dann baut er sich vor mir auf, mustert mich mit einem missbilligenden Blick von oben bis unten und sagt drohend: „Misch dich nicht in unsere Privatangelegenheiten ein, Marco. Sonst kriegst du von mir ein paar aufs Maul!“
Ich bin so überrascht, dass mir der Mund offen stehen bleibt. Die bahnbrechenden Erkenntnisse, die ich während des Streits gewonnen habe, sind auf einmal wie weggefegt und meine Sympathien gehören wieder voll und ganz meiner Schwester. Was bildet der Kerl sich eigentlich ein?
Obwohl ich weiß, dass ich bei diesem Familienkrach nur Zaungast bin, ein Zuschauer, dem es nicht zusteht, Partei zu ergreifen, habe ich plötzlich eine irrsinnige Wut im Bauch. Ich hatte überhaupt nicht vor, Stellung zu beziehen, aber ich lasse mir auch nicht von einem aufgeblasenen Möchtegern-Hetero-Macho den Mund verbieten. In meinem Magen bildet sich ein dicker Kloß und mein Puls rast.
„Geh mir aus den Augen!“ zische ich Klaus an. „Geh zurück zu deiner kleinen französischen Schlampe und lass Sabine in Ruhe!“
Eigentlich bin ich eher der Typ, der körperlichen
Weitere Kostenlose Bücher