Und dann der Himmel
„Colette macht mir morgens immer Schokomüsli.“
Ich verstehe den Wink mit dem Zaunpfahl, stelle ihm eine Schüssel Müsli auf seinen Platz und gieße Milch darüber. „Zufrieden?“
Simon antwortet nicht, fängt aber an, große Löffel der Pampe in seinen Mund zu schaufeln. „Warum schläft Mama auf der Couch im Kinderzimmer?“ fragt er dann plötzlich mit vollem Mund. „Hat sie Angst, dass wir vom Moormonster geklaut werden?“
Ich bin gerade dabei, Kaffee für die Filtertüte abzumessen, und verzähle mich prompt. „Vom Moormonster?“ Ich hoffe inständig, meinen Neffen damit von seiner eigentlichen Frage abgelenkt zu haben. Ich will nicht derjenige sein, der ihm beibringt, dass er ab sofort aus zerrütteten Familienverhältnissen stammt.
„Das Moormonster wohnt nebenan im Moor. Es ist ganz schleimig, trägt einen zerrissenen Umhang und hat schlechte Zähne, weil es nie Zahnseide benutzt. Und es klaut nachts die Kinder aus den Bauernhöfen drumherum“, gruselt sich Simon wohlig. „Das hat mir Dennis erzählt, aber er kann mir keine Angst einjagen, weil ich kann nämlich Karate. Willst du mal sehen?“ Simon lässt den Löffel in die Milch fallen, springt auf und duckt sich mit blitzenden Augen in eine Art Bruce-Lee-Kampfstellung.
„Simon“, sage ich genervt. „Es ist sieben Uhr morgens und ich hatte noch nicht mal meine morgendliche Dosis Koffein. Kannst du einen Gang zurückschalten?“
Die Küchentür öffnet sich und Sabine kommt herein mit einer ebenfalls aufgekratzten Annika auf dem Arm. „Morgen“, murmelt sie müde und drückt ihrem Sohn einen Kuss auf die Stirn. Man kann deutlich erkennen, dass auch sie nicht geschlafen hat in dieser Nacht.
Direkt hinter meiner Schwester stürzt Klaus durch die Tür. Normalerweise wirkt er selbstsicher und ein wenig herablassend, als könnte ihn nichts und niemand aus der Fassung bringen, aber heute ist der große, schlaksige Mann mit dem dünner werdenden Haar eindeutig nicht Herr der Lage. Sein Hemd hängt halb aus der Hose heraus und sitzt schief, weil er es falsch geknöpft hat, und einer der Schnürsenkel an seinen Schuhen ist offen – als hätte das Chaos in seiner Ehe auf seine Kleiderordnung abgefärbt. Seine Miene ist sorgenvoll und ängstlich, seine Gesten unruhig und fahrig.
„Sabine, ich muss mit dir reden!“ sagt er beschwörend und ignoriert meine Anwesenheit.
Meine Schwester bittet mich mit den Augen, die Küche zu verlassen, und ich nehme meinen Kaffeebecher und verdrücke mich schnell ins Wohnzimmer. Bei einem solchen Familiendrama möchte ich gar nicht anwesend sein, aber natürlich setze ich mich so nah an die geschlossene Tür, dass ich möglichst viel mitbekomme. Ärgerlich ist nur, dass Sabine Annika auf meinem Arm deponiert hat, mich zusammen mit Simon aus dem Raum geschoben hat und ich mich jetzt um die Kinder kümmern muss, was das unverfängliche Lauschen nicht gerade erleichtert. Kurz entschlossen stopfe ich Annika den Schnuller in den Mund, lege sie auf der Wohnzimmercouch ab und schenke Simon einen Euro, unter der Bedingung, dass er in den nächsten zehn Minuten die Klappe hält. Beides funktioniert, die Blagen sind ruhig. Da soll noch einer sagen, Schwule verstehen nichts von Kindererziehung.
Zuerst höre ich nur unverständliches Gemurmel, obwohl ich mit dem Ohr am Schlüsselloch klebe, denn Sabine und Klaus bemühen sich, ihre Stimmen gedämpft und ruhig zu halten. Aber wie das so ist bei Streitigkeiten, bei denen es ums Eingemachte geht, irgendwann entspricht die Lautstärke dem Grad der Emotionen. Die erlittenen Verletzungen sind einfach zu schmerzhaft, um sie sachlich zu diskutieren. Ich kenne das. Dementsprechend werden nach wenigen Minuten die Stimmen auch lauter. Ich reibe mir verstohlen die Hände, schlürfe meinen Kaffee und genieße die Vorstellung wie ein spannendes Hörbuch. Endlich haben auch mal andere Leute Beziehungsprobleme.
Anfangs fährt Sabine die üblichen Geschütze auf – Sätze, die mit den Worten beginnen: „Wie kannst du nur …“, „Was glaubst du, wie ich mich dabei fühle …“, „Das werde ich dir niemals verzeihen …“ – und ich nicke zustimmend und klatsche innerlich Beifall. Sie hat meine volle Solidarität. Nur zu gut kann ich die Worte meiner Schwester nachvollziehen, denn ich habe sie oft genug selber benutzt.
Diesmal habe ich jedoch mehr Distanz. Ich bin nicht in die Auseinandersetzung involviert, und meine Position als heimlicher Lauscher gibt mir die
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