Und dann der Himmel
gemacht; wie vergessene Spazierstöcke ragen sie zurückgeschnitten und festgebunden aus dem Boden. Ich bin jedes Mal erstaunt, dass von diesen grauen und trostlosen Pflanzen im nächsten Jahr wieder pralle, süße Weintrauben geerntet werden können.
Obwohl es mitunter steil bergauf geht, laufe ich im Stechschritt durch die Rebstöcke, so wütend bin ich. Ich habe genug von Rafael, ich habe genug von seinen Versuchen, mir meine Fehler vor Augen zu führen. Ich habe genug von dem unangenehmen Gefühl, dass an seinen und den Worten meiner Mutter etwas Wahres sein könnte. Ich brauche eine Pause; die andauernden Aufforderungen zur Selbstreflexion machen mich mürbe. Eigentlich will ich nur nach Hause zurück, in mein altes Leben. Mir jetzt zusammen mit Lars, Anja und Patrick die Kanne geben, das wäre genau das Richtige. Und wenn mich im Rausch wieder die Sehnsucht nach einem Mann – nach dem Mann – überkommt, ziehe ich mich einfach in mein Zimmer zurück und hole mir einen runter. Dann kann ich wenigstens gut schlafen.
Auf halber Höhe muss ich stehen bleiben und Atem holen. Mein Herz klopft und ich spüre, wie unter meinem Verband das Blut in der Platzwunde pulsiert. Ich war noch nie ein besonders guter Ausdauersportler. Für die 1000-Meter-Rennen im Schulsport habe ich über fünf Minuten gebraucht und hinterher war mir jedes Mal so schlecht, dass ich mich übergeben musste. Die anderen haben sich immer schlappgelacht. Und dann war da noch der Moment, als mein Vater mich beim Onanieren erwischt hat, und als ich beim Rauchen meiner ersten heimlichen Zigarette um ein Haar das ganze Haus angezündet hätte.
Die Erinnerungen an meine Jugend machen mich erneut wütend auf Rafael. Wenn er mich als Kind vor dem Ertrinken gerettet hat, wieso hat er mir dann nicht auch die vielen schmachvollen Erlebnisse erspart? War er sich als Schutzengel vielleicht zu fein für diese peinlichen Kleinigkeiten?
Auch wenn ich weiß, dass ich mich völlig irrational verhalte, ändert das nichts an meiner Unzufriedenheit. Ich wünschte, Rafael wäre mir nie begegnet. Ein Teil meiner Gereiztheit ist daher sicherlich auf mein gesteigertes Schlafbedürfnis zurückzuführen, aber ich kann mir diesen Luxus zurzeit nicht leisten, denn dann erfährt Rafael die Wahrheit über Finn und mich. In meinen Träumen gibt es keine Ausflüchte, keine Entschuldigungen.
Ich höre Schritte hinter mir und sehe Rafael mit Adolf im Schlepptau auf mich zukommen. Er hat sich von meinem Vater einen alten Mantel ausgeliehen, um seine Flügel vor neugierigen Blicken zu verbergen.
„Was willst du?“ rufe ich ihm schon von weitem zu, in der Hoffnung, ihn mit meinem schroffen Tonfall auf Distanz zu halten.
Aber Rafael lässt sich nicht beirren. „Ich will dir Gesellschaft leisten“, schnauft er, als er mich erreicht hat. Adolf schnüffelt am nächstgelegenen Rebstock, hebt sein Bein und pinkelt.
„Ich will keine Gesellschaft. Schon gar nicht deine“, erwidere ich mürrisch. „Ich will allein sein.“
„Nein, Marco, das willst du nicht“, sagt Rafael ernst, verständnisvoll, und ich hasse ihn dafür, dass er die Bedeutung eines einfachen Satzes in einen völlig anderen Sinnzusammenhang stellt und auch noch Recht hat damit. Natürlich will ich nicht allein sein. Ich bin einer von den Menschen, die sich erst vollständig fühlen, wenn sie ihr Leben mit jemandem teilen können. Noch während diese Erkenntnis in meinen Gedanken herumflattert, wird mir bewusst, dass Finn in meinem letzten Traum fast die gleichen Worte gebraucht hat.
„Du …“ fauche ich Rafael an, „du gibst wohl nie auf, was? Erst knallst du mir meine Fehler vor den Latz und jetzt versuchst du es auf die Mitleidstour! Du bist wirklich in Schleim gemeißelt!“
Aber auch wenn ich trotzig gegen meine Tränen ankämpfe, kann ich das Wasser in meinen Augen genauso wenig zurückhalten, wie der Himmel über mir den Regen in seinen Wolken. Gemeinsam öffnen wir unsere Schleusen und schon nach wenigen Sekunden kann ich nicht mehr unterscheiden, ob das Wasser, das mir über die Wangen und Lippen rinnt, salzig oder süß schmeckt. Instinktiv dränge ich mich an Rafaels Körper, suche Schutz vor dem niederstürzenden Regen, der plötzlich an Intensität so zunimmt, dass die Tropfen auf der Haut wehtun und kleine Sturzbäche die Erde den Weinberg herunterschwemmen. Rafael schält sich aus seinem Mantel und wirft ihn achtlos über einen Weinstock, und noch bevor ich ihn fragen kann, was er da tut,
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