Und dann der Himmel
beiden zumindest verstanden, dass Sabine ihren Mann verlassen und mit den Kindern über die Feiertage bei ihnen bleiben will, immerhin liegt so etwas nicht außerhalb ihres Erfahrungshorizonts. Sabine und Klaus sind nicht das erste Paar in ihrem Freundeskreis, das sich trennt, weil einer der Partner der Treue abgeschworen hat, ohne den anderen von seinem Entschluss in Kenntnis zu setzen.
„Hast du Klaus wirklich die Faust ins Gesicht geschlagen?“ fragt mich meine Mutter. Ich werde rot und Sabine lacht auf.
Rafaels Existenz bezweifeln meine Eltern jedoch nach wie vor, allerdings bleibt mein Vater während unserer umständlichen Erklärungsversuche merkwürdig ruhig und beobachtet den Engel aufmerksam.
„Zeig ihnen einfach deinen Rücken, Rafael“, sage ich schließlich müde. „Ansonsten glauben sie dir sowieso nicht. Sie sind Skeptiker, genauso wie Sabine und ich. Es liegt wohl in den Genen.“
Rafael legt stumm seine Jacke ab und plötzlich ist es ganz still in der Küche. Selbst mir verschlägt es die Sprache, obwohl ich schon ein paar Tage Zeit hatte, mich an Rafaels Erscheinungsbild zu gewöhnen. Auf dem Rücken des Engels entfalten sich Flügel, die mehr als doppelt so groß sind wie am Vortag. Aus dem buschigen Flaum, über den Sabine mit einer Hand streichen konnte, sind große, eng aneinander liegende Federn geworden, deren Schattierungen nun von einem hellen Weiß bis ins Silberne reichen. Die Flügel sind fast so lang wie meine ausgestreckten Arme, sie reichen Rafael von den Schultern bis zum Po und ihre Spannweite muss mindestens zwei Meter betragen. Rafael strahlt plötzlich die Würde und Macht aus, die ich immer schon mit einem Erzengel assoziiert habe. Kein Vergleich mehr zu den dicklichen Barockputten, mit denen ihn Sabine noch gestern auf eine Stufe gestellt hat.
„Wow!“ entfährt es meiner Schwester.
„Cool!“ sagt Simon und Annika kräht begeistert. Auch meine Mutter ist sichtlich beeindruckt.
Die Reaktion meines Vaters aber ist für uns alle unerwartet. Als verspürte er einen unerwarteten, heftigen Schmerz, holt er zischend Luft und hält dann erschrocken den Atem an. Er steht langsam auf und stützt sich dabei an der Lehne ab. Seine Mundwinkel zittern und seine Augen bekommen einen feuchten Schimmer. Zögernd und etwas unsicher auf den Beinen geht er auf Rafael zu. Doch anstatt die Flügel genauer zu untersuchen, sie zu berühren und sich dadurch von ihrer Realität zu überzeugen, streift er mit zittrigen Händen über Rafaels dunkle Haare und betrachtet das Gesicht des Engels, als suchte er nach einem verborgenen Zeichen in seinen Augen. Rafael lässt diese Musterung mit einem undurchdringlichen Lächeln über sich ergehen, als wüsste er, was in meinem Vater vorgeht.
„Was ist los?“ frage ich. „Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber …“
Mein Vater unterbricht mich mit einer unwirschen Handbewegung und dann sagt er stockend zu Rafael: „Ich erkenne dich. Es ist nicht das erste Mal, dass du meinem Sohn hilfst, oder? Du warst schon einmal bei uns. Marco hat von dir erzählt, damals.“
Zu meiner maßlosen Überraschung nickt Rafael zustimmend. „Ja“, sagt er. „Aber Marco kann sich nicht mehr daran erinnern.“
„Was?“ frage ich erstaunt.
„Ja, natürlich!“ Sabine schlägt sich plötzlich mit der Hand vor den Kopf und springt auf. „Jetzt fällt es mir wieder ein! Er kam mir gleich so bekannt vor!“ Auch sie betrachtet Rafael noch einmal genauer. „Er sieht tatsächlich so aus, wie Marco ihn damals beschrieben hat. Die dunklen, schulterlangen Haare, die Grübchen auf den Wangen – deshalb hatte ich auch die ganze Zeit dieses komische Gefühl, ihn schon mal gesehen zu haben! Und ich habe ihn immer für ein Hirngespinst von Marco gehalten!“
„Sagt mal, wovon sprecht ihr eigentlich?“ frage ich ungehalten.
„Erinnerst du dich nicht mehr?“ sagt mein Vater. „Als Kind hattest du einen Badeunfall.“
„Natürlich weiß ich das noch“, erwidere ich ungnädig und deute auf die schmale Narbe über meiner Oberlippe. „Ich wäre fast abgesoffen, bevor mich ein paar von Sabines Freunden aus dem Wasser gefischt haben.“ Ich erinnere mich an das trübe, dunkle Wasser unter dem schwimmenden Floß und an die entsetzliche Angst, die ich empfunden habe, als ich glaubte, ich würde ertrinken. Seit Jahren habe ich nicht mehr daran gedacht; mein Gedächtnis hatte dieses Erlebnis eingekapselt und versteckt. Manche Ereignisse verkraftet man nur, wenn man
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