Und dann der Himmel
breitet er seine Flügel aus und umschließt mich sanft mit einer Decke aus Federn. Von Rafaels Flügeln umgeben befinde ich mich an einem Ort, den das Wasser nicht erreichen kann. In seiner Umarmung ist es warm und flauschig, wie in einem Iglu, dessen Boden und Wände mit Fellen ausgelegt sind. Hin und wieder streicht der Wind ein paar Federn über meinen Nacken, als ob Dutzende sanfte Hände mich mit ihren Berührungen beruhigen wollten. Um mich herum schimmert gedämpftes Licht zwischen den Flügeln hindurch wie Kerzenschein, und ich fühle mich geborgen und sicher.
Rafaels schützende Geste lässt in mir die letzten Dämme brechen und auf einmal heule ich wie ein Schlosshund. Ich kann mich nicht mehr zurückhalten, ich bin völlig fertig. Meine Schultern zucken, Tränen verschmieren mein Gesicht und der Rotz läuft mir aus der Nase. Ich weine um mich selbst, aus Erschöpfung, ich weine aus Mitleid über das Ende der Ehe meiner Schwester und ich weine aus Angst vor der Erkenntnis, dass ich Finn vielleicht noch immer liebe und ihn trotzdem vertrieben habe. Erst als Rafaels Brust von meinen Tränen völlig nass ist, gelingt es mir, mich langsam wieder zu fangen. Während ich mir das Gesicht trocken wische und die Nase hochziehe, wiegen mich Rafaels Flügel zärtlich hin und her.
So plötzlich, wie das Unwetter begonnen hat, zieht es vorüber. Der Himmel klart auf und ändert seine Farbe zu einem Stahlblau, sogar die Sonne lässt sich erahnen. Nur noch vereinzelt fallen ein paar Tropfen, Nachzügler, die mit dem Hauptfeld der Regenwolken nicht Schritt halten konnten. „Danke“, bringe ich heraus, als mich Rafael aus seiner Umarmung entlässt. „Das war schön.“
„Geht es dir jetzt besser?“ fragt Rafael.
„Ja … nein“, schnüffele ich. Ich weiß es wirklich nicht. „Aber aufgeben werde ich nicht.“ In meine Stimme kehrt langsam ein gewisser Trotz zurück. Es ist das erste Mal, dass ich offen ausspreche, dass wir beide einen Wettstreit führen. Doch die Schlachten, die wir schlagen, bekommen ein immer stärkeres Ungleichgewicht. In seinem Kampf um mein Seelenheil macht Rafael unablässig Geländegewinne und ich verzettele mich in aussichtslose Rückzugsgefechte, nur um ein paar hässliche Wahrheiten zu verbergen.
„Das habe ich auch nicht erwartet“, antwortet er leichthin und grinst vielsagend. „Du hast eben noch ein paar Lektionen zu lernen.“
„O nein, bitte nicht!“ stöhne ich. „Lass uns einen Waffenstillstand schließen, wenigstens für ein paar Stunden. Ich bin so müde!“
Rafael schüttelt den Kopf und schnappt sich seinen Mantel. „Nein“, sagt er bestimmt. „Die Zeit rennt mir davon. Komm, lass uns zurückgehen, deine Eltern warten.“
„Worauf?“ frage ich verwundert, aber Rafael tut so, als hätte er meine Frage nicht gehört.
Ich pfeife nach Adolf, der sich vor dem Regen unter die kahlen Äste eines Baumes gerettet hat, und zu dritt stapfen wir den schlammigen Weinberg hinunter, zurück zum Haus. Jetzt, wo ich nicht mehr die Geborgenheit von Rafaels Flügeln um mich verspüre, zittere ich vor Kälte.
„Beziehungen über eine große Distanz sind wahrscheinlich von vornherein zum Scheitern verurteilt“, sinniert Finn. Der Alkohol hat seine Zunge gelöst und er ist redselig geworden. „Ich meine, zwischen Köln und den bayerischen Alpen liegen ungefähr 650 Kilometer Autobahn. Und wenn man sich nur am Wochenende sehen kann, dann ist diese Entfernung gepflastert mit Misstrauen und Eifersucht.“
„Wenn man Marco heißt“, ergänzt Rafael. Er steht mit dem Rücken zu Finn und wärmt sich die Hände am Kaminfeuer.
Finn runzelt die Stirn und redet weiter. „Man lernt den anderen auch nie richtig kennen. Weil man weiß, dass man nur wenig Zeit miteinander verbringen kann, vielleicht nur 48 Stunden, zieht man am Ende der Woche die Sonntagsklamotten an und setzt sein Feiertagsgesicht auf, wie eine Maske, hinter der alle Probleme versteckt bleiben, mit denen man im Alltag sonst konfrontiert wird.“
„Eine schöne Metapher“, unterbricht Rafael erneut. „So poetisch! Wie sah denn dein Feiertagsgesicht aus?“
Finn sieht den Engel scharf an und sucht nach einem Anzeichen, dass die Bemerkung ironisch gemeint war, aber Rafael verzieht keine Miene. Dann erhebt sich Finn etwas unbeholfen und beginnt, in der Küche auf und ab zu laufen. Er kann besser denken, wenn er in Bewegung ist. „Ich habe versucht, mit ihm Schritt zu halten“, sagt er, nachdem er den Tisch fünf
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