Und dann der Himmel
sie wieder öffnet, sieht er Marco im Eingang der Lounge stehen. Verschwitzt und reglos steht er da und beobachtet Finn mit wütenden, zusammengekniffenen Augen. Finn schrickt zusammen und springt auf, er ist genauso entsetzt wie Marco, denn er hat keine Ahnung, wieso er Carl geküsst hat, und er lässt den Jungen stehen und rennt hinter Marco her, der sich auf dem Absatz herumgedreht hat und Richtung Ausgang läuft.
Finn hält Marco am Ärmel fest und sagt, dass es ihm Leid tut und dass er auch nicht wisse, wie es dazu gekommen ist, und dass es nie seine Absicht gewesen sei, Marco zu hintergehen, aber Marco hört nicht zu, denn er weiß jetzt, dass Finn genauso ist wie seine Vorgänger, ein Falschspieler, ein Fremdgänger, ein Lügner, und es kostet Finn die halbe Nacht und viel Selbstverleugnung, Marco vom Gegenteil zu überzeugen. Und als der Morgen dämmert und beide erschöpft vom Streiten und Versöhnen nebeneinander im Bett liegen, ahnt Finn, dass er eine Gelegenheit verpasst hat, seinem Freund klar zu machen, dass auch er, Marco, nicht perfekt ist.
Finn steht auf, feuert das heruntergebrannte Kaminfeuer mit einem Schürhaken wieder an und sieht Rafael an.
„Und wie ist es weitergegangen?“ fragt der Engel.
Finn schüttelt den Kopf und schweigt.
Als ich wach werde, finde ich mich auf dem Bett meines alten Zimmers wieder, oben im Turm, direkt unter dem Dach. Nur der Speicher, auf dem man kaum aufrecht stehen kann, trennt mich von den Dachziegeln. Wäre ich ein Mädchen geworden, hätte ich in meiner Kindheit wahrscheinlich ständig Rapunzel gespielt.
Meine Mutter steht am Ende des Bettes und sieht besorgt auf mich herab.
„Wie spät ist es?“ frage ich mit schwerer Zunge. Ich fühle mich benommen, wie am Tag nach einer durchzechten Nacht.
„Fünf Uhr nachmittags“, antwortet meine Mutter.
„Was?“ rufe ich entsetzt aus. „Ich habe fast vier Stunden geschlafen?“ Selbst wenn ich mich nur an die Hälfte von dem erinnern kann, was ich geträumt habe, ist der Schaden kaum noch gutzumachen.
„Du warst völlig übermüdet“, sagt meine Mutter.
„Wie bin ich hierher gekommen?“ frage ich desorientiert. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist das wohlige Gefühl unter Rafaels Flügeln.
„Du bist in der Küche mit dem Kopf auf der Tischplatte eingeschlafen, nachdem ihr völlig durchnässt aus dem Weinberg zurückgekommen seid. Rafael hat dich hoch getragen. Er hat gesagt, er kümmert sich um dich.“
„Kann ich mir vorstellen“, erwidere ich. Dass ich vom Schlaf übermannt worden bin, wird ihm ein innerer Abgang gewesen sein.
Meine Mutter setzt sich auf die Bettkante und schlägt bedächtig die Beine übereinander. „Marco“, sagt sie, „was ist los mit dir?“ Sie hat ihre antiautoritäre Miene aufgesetzt, ihr Lass-uns-darüber-reden-Gesicht, eine Angewohnheit, die ich noch aus meiner Kindheit kenne.
Jedes Mal, wenn ich früher etwas ausgefressen hatte, setzte sich meine Mutter mit mir zusammen und wir diskutierten über das Delikt. Stundenlang, verständnisvoll und so ermüdend, dass ich alles dafür gegeben hätte, wie andere Kinder einfach Stubenarrest oder Fernsehverbot zu erhalten. Die an meine Vernunft appellierenden Worte führten immer dazu, mir ein schlechtes Gewissen zu machen, und gaben mir das Gefühl, versagt zu haben, weil ich die moralischen Ideale meiner Mutter wieder einmal verfehlt und sie persönlich enttäuscht hatte. Nach diesen Unterhaltungen war ich meist tagelang depressiv. Die Standpauken meines Vaters waren mir tausend Mal lieber. Nachdem er der fränkischen Gemütsruhe über zehn Jahre lang ausgesetzt worden war, war eine versehentlich mit einem Tennisball eingeworfene Fensterscheibe für ihn nur der Streich eines dummen Jungen, den man mit einer Kopfnuss ahndete und dann wieder vergaß; meine Mutter dagegen begriff ein solches Vergehen als den möglichen Beginn einer Persönlichkeitsstörung, vielleicht einer Neigung zu latenter Gewaltbereitschaft, die sofort aus meinem Kopf herausdiskutiert werden musste. Schließlich hatte sie nicht umsonst drei Semester Sozialpädagogik studiert.
Dementsprechend abwehrend reagiere ich, als sie mich jetzt eindringlich ansieht. „Bitte, Mutter“, sage ich, „fang erst gar nicht an!“
„Aber ich sehe doch, dass dich etwas bedrückt!“
„Mich bedrückt höchstens, dass in letzter Zeit anscheinend jeder einen besseren Menschen aus mir machen will“, erwidere ich mürrisch. Ich habe keine Lust, mit meiner Mutter
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