Und dann der Himmel
sie verdrängt.
Sabine schüttelt heftig den Kopf. „Anfangs hast du immer erzählt, ein Mann mit schwarzen Haaren und einem Lächeln sei plötzlich unter Wasser vor dir aufgetaucht und hätte dich unter dem Ponton hervorgezogen. Du hast ihn bis ins kleinste Detail beschrieben, als hättest du ihn wirklich vor dir gesehen, aber wir haben das immer deiner Einbildung zugeschrieben, ein Hirngespinst, weil du kurz vorm Ertrinken warst.“
„Aber ein paar deiner Freunde haben mich aus dem Wasser gezogen!“ protestiere ich.
„Ja, aber erst, als dein Kopf plötzlich wieder über der Oberfläche auftauchte!“ Meine Schwester schüttelt sich, auch sie wird von lange verdrängten Bildern und Schuldgefühlen überflutet. „Niemand ist unter den Ponton geschwommen. Wir haben alle vermutet, du hättest das irgendwie aus eigener Kraft geschafft. Außerdem gab es bei deiner Rettung niemanden, auf den deine Beschreibung passte. Mit mir waren doch nur ein paar Jugendliche auf dem Floß!“
Ich starre Sabine an und dann sehe ich ihn plötzlich wieder vor mir, den Mann, der aus dem Nichts auftaucht und an den ich später selbst nicht mehr geglaubt habe, weil alle – meine Schwester, meine Eltern und selbst der herbeigerufene Notarzt – mir erzählten, ich habe mir die Gestalt eingebildet, als ich dabei war, das Bewusstsein zu verlieren. Doch jetzt hat ihn mein Gedächtnis wieder hervorgeholt aus dem Kokon, den ich um diese Erinnerung gewoben habe, und ich weiß, dass er völlig real war. Er war keine Halluzination absterbender Nervenzellen oder das Hirngespinst eines unter zu großem Druck stehenden Gehirns. Der Mann hatte schwarze Haare, Grübchen auf den Wangen und ein Lächeln, das mir damals mit einem Schlag die Angst vor dem Ertrinken nahm. Ich fühle seine Hände unter meinen Achseln und ich spüre den Sog des Wassers, als er mich unter dem Ponton weg und nach oben zur Oberfläche zieht.
„Rafael!“ sage ich und sehe den Engel mit großen Augen an. „Du warst das?“
Rafael lächelt verlegen. „Erinnerst du dich, dass du in der ersten Nacht, als ich auf dem Feldbett gelegen habe, das Gefühl hattest, mich zu kennen?“ fragt er leise. „Jetzt weißt du, warum.“
Aber ich bin noch viel zu sehr mit meinen Kindheitserlebnissen beschäftigt, um über die jüngere Vergangenheit nachzudenken. Auf einmal erinnere ich mich an ein weiteres Detail. „‚Wir sehen uns später, Kleiner!‘“ wiederhole ich langsam seine Worte von damals – Worte, die ich als Kind nicht verstanden habe. „ Das hast du mir noch zugeflüstert, bevor mich die anderen aus dem Wasser gezogen haben. Und dann warst du weg.“ Ich starre Rafael weiter an. „Was hast du damit sagen wollen? Hast du es gemeint wie in Casablanca , dieses Humphrey-Bogart-Ich-seh-dir-in-die-Augen-Kleines, oder hast du gewusst, dass wir uns eines Tages noch einmal begegnen werden?“ Meine Stimme wird laut. Rafael senkt die Augen und bekommt rote Ohren. „Los! Antworte mir!“ herrsche ich ihn schließlich an und ernte erstaunte Blicke von meiner Familie.
Doch ich kann nicht auf die anderen eingehen. Zu viele Gefühle wirbeln in mir durcheinander wie die Zeitrafferaufnahmen eines Himmels, an dem sich Regen, Sonne, Wolken und Stürme in schneller Folge abwechseln. Zum einen ist da der Schock über die Erkenntnis, Rafael schon einmal begegnet zu sein, und Dankbarkeit, dass er mir als Kind das Leben gerettet hat. Aber dann ist da auch das immer stärker werdende Gefühl, eine Marionette zu sein, deren Strippen jemand anders mein ganzes Leben gezogen hat. Alles, was ich erlebt habe, war vorherbestimmt, führte in gerader Linie in die Sackgasse, in der ich mich jetzt befinde. Nichts von dem, was ich gemacht und getan habe, sagt etwas über mich aus und meine Fähigkeit, mein Leben zu meistern. Jemand anders hat entschieden, dass ich keinen Job mehr habe, jemand anders hat entschieden, dass mir nur Männer begegnen, mit denen keine Beziehung möglich ist, jemand anders hat entschieden, dass ich mich von Finn trenne. Und Rafael weiß das genau.
Aber der Engel schüttelt den Kopf. „Nein, Marco“, sagt er, als hätte er erneut meine Gedanken gelesen. „So ist es nicht. Das ist eine zu antike Betrachtungsweise. Das Bild des Menschen als Spielball eines Schicksals, dem er nicht entkommen kann. Glaubst du wirklich, ich vertrete einen Glauben, der eher der griechisch-römischen Götterwelt als der christlichen Religion entspricht? Du hast immer den freien Willen gehabt,
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