Und dann kusste er mich
war. Dem alten Fuchs war es gelungen, den dankbaren Arbeitern ein großes Stück des Baums abzuschwatzen – und sich dieses die halbe Meile bis hin zu den Anlegestellen transportieren zu lassen –, so dass nun genügend Feuerholz da war, um die Öfen in jeder Kombüse über mehrere Wochen hinweg zu heizen.
Während mein Onkel mit den Naturgewalten kämpf te, focht meine Tante einen völlig anderen Kampf mit sich selbst aus – der jedoch nicht weniger turbulent ver lief. Ich erfuhr davon, als sie mich unerwartet in der Arbeit anrief und fragte, ob wir uns zum Mittagessen treffen könnten.
Es war eine angenehme Überraschung und eine willkommene Verschnaufpause von der wenig spannenden Arbeit an einem Jingle für Hühneraugenpflaster. Wir verabredeten uns im Chez Henri, einem familiengeführten französischen Bistro in der Nähe der New Street, das eines der Lieblingsrestaurants meiner Tante war.
Während des ersten Gangs plauderten wir über dies und das: Arbeit, Wetter, Onkel Dudleys kühnen Kampf mit der alten Eiche, Elvis’ Ohrenentzündung, deretwegen ihm der Tierarzt einen breiten Plastikkragen verpasst hatte, damit er sich nicht kratzte … Doch die ganze Zeit über bemerkte ich, dass ihr Lächeln irgendwie verkrampft war, als läge etwas Unausgesprochenes in der Luft.
Als die Desserts serviert wurden (der wahre Grund, weshalb meine Tante Chez Henri liebte), beobachtete ich, wie sie sorgsam den Teller herumdrehte und das darauf angerichtete Kuchenstück so intensiv musterte wie ein Juwelier eine antike Diamantkette.
»Absolut fehlerlos, vollkommen «, hauchte sie mit ehrfürchtigem Kopfschütteln. »Das ist höchste Konditorkunst.« Und dann brach sie aus heiterem Himmel in Tränen aus.
»Tante Mags, was ist los?«, sagte ich, erschrocken über diesen Gefühlsausbruch meiner sonst so ausgeglichenen Tante. Ihr lautes Schluchzen erregte die Aufmerksamkeit der anderen Gäste.
»Mit so etwas werde ich mich niemals messen können! Was habe ich mir da nur gedacht?«
»Was meinst du damit? Warum musst du dich mit irgendwem messen?« Einen Moment lang fragte ich mich, ob sich Tante Mags vielleicht zu der Kochsendung MasterChef angemeldet hatte. Onkel Dudley schlug es ihr jedes Mal vor, wenn sie sich die Sendung ansahen, worauf meine Tante regelmäßig in die Luft ging.
»Ach, kümmere dich nicht um deine alte bekloppte Tante«, schniefte sie und wischte sich mit einer Serviette die Tränen ab. »Es ist nur … Ich habe etwas sehr Dummes gemacht.«
»Madame Parker, alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Jean-Jacques, zweiter Manager und Sohn des Restaurantbesitzers, der auf den Hinweis einer Kellnerin hin, die sich nun halb hinter ihm versteckte, an unseren Tisch gekommen war. Die Familie war mit Tante Mags und Onkel Dudley, die seit Jahrzehnten hierherkamen, gut befreundet.
Errötend lächelte sie ihn an: »Danke, JJ, es geht schon wieder. Tut mir leid, wenn ich die anderen Gäste verschreckt habe.«
»Das braucht Ihnen nicht leidzutun. Wir machen uns viel mehr Sorgen um Sie«, erwiderte Jean-Jacques, zu dem sich neben der Kellnerin nun auch noch der Sommelier und der Oberkellner gesellt hatten, die alle zustimmend nickten. »Bitte, erzählen Sie uns doch, was Sie so betrübt.«
Tante Mags schniefte erneut und sagte dann zu ihrem kleinen Publikum: »Ich habe meiner Nichte gerade berichtet, dass ich ein wenig … impulsiv gewesen bin.« Mit zerknirschtem Lächeln wandte sie sich mir wieder zu. »Weißt du noch, wie du im Sommer gesagt hast, meine Kuchen seien wie eine Therapie? Nun ja, das habe ich seitdem nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Und als dann auch noch deine Blog-Leser nach meinen Rezepten fragten, schien alles plötzlich auf eine Sache hinauszulaufen. Ich meine, das Leben ist zu kurz, um Dinge auf die lange Bank zu schieben, oder?«
Jean-Jacques, die Kellnerin, der Sommelier, der Oberkellner, das Paar am Nebentisch (das inzwischen die Stühle zu uns herumgedreht hatte) und ich nickten zustimmend.
»Nun, zumindest dachte ich das, bis … Aber ich greife vor.« Sie glättete die Serviette zu einem ordentlichen Dreieck neben ihrem Teller und holte tief Luft. »Gestern Vormittag habe ich den Mietvertrag für eine kleine Teestube in Kingsbury unterschrieben. Das Geld dafür habe ich von meiner Mutter geerbt und für schlechte Zeiten zurückgelegt. Und ich weiß, was Sie jetzt sagen werden, Jean-Jacques, und ich stimme Ihnen absolut zu … Es war unüberlegt …«
»Nein, Madame!«, rief
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