Und dann kusste er mich
zulassen, dass das so bleibt. Ich wollte einfach, dass du das weißt. Mehr nicht.«
Ich war total durcheinander. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte, aber dies ganz sicher nicht. Ich betrachtete sein Gesicht in der Dunkelheit. Die vorbeiziehenden Lichter tauchten seine Züge mal in orangefarbenes Glühen, mal in tintenfleckige Schatten. Es gab eine Million Dinge, die ich ihm gern sagen würde, doch ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Fühlte er dasselbe? Ich war mir nicht sicher: Seine Miene war frustrierend ausdruckslos, doch in seinen Augen lag etwas, das ich nicht ganz deuten konnte. Beinahe hätte ich etwas gesagt, überlegte es mir dann aber rasch anders.
»Danke für … ähm, deine Worte«, brachte ich schließlich hervor. Und dann, weil mir nichts Besseres einfiel: »Frohes neues Jahr, Charlie.«
Sein Seufzen war schwerer als ein Amboss. »Frohes neues Jahr, Rom.«
Der Januar blies mit dem eisigen Hauch einer Gefriertruhe durch die Stadt, zunächst begleitet von wundersamem Reif, der jeden Ast und jeden Grashalm mit langen, spinnenbeinartigen Eiskristallen überzog, danach von Unmengen von Schnee. Straßen wurden unpassierbar, die Schulkinder kamen in den Genuss verlängerte Weihnachtsferien, und Angestellte nutzten die Wetterverhältnisse – teils berechtigt, teils unberechtigt – dazu, einen freien Tag für sich herauszuschinden.
Nachdem ich zwei Stunden in einem nervtötend langsam fahrenden Bus verbracht hatte, der schließlich eine halbe Meile von meinem Ziel entfernt anhielt, stapfte ich an der Hauptstraße entlang zu meiner Arbeitsstelle, als plötzlich Amanda anrief.
»Das Wasser im Studio ist eingefroren«, teilte sie mir mit. »Der Wartungsdienst ist da und versucht, die Rohre zu enteisen. Du brauchst heute also nicht zu kommen.«
Eigentlich hätte ich sauer sein müssen, weil diese Nachricht so spät bei mir ankam, doch tatsächlich empfand ich das Ganze als Atempause. In der letzten Woche war das Arbeitspensum bei Brum FM ziemlich ausgeufert, also war ein unverhoffter Urlaubstag mehr als willkommen. Spontan beschloss ich, ins Zentrum zu spazieren. Meine Schritte knirschten auf dem blendend weißen Untergrund, während der Schnee in dichten filigranen Flocken herabfiel, die sanft auf meiner Nase und meinen Wangen landeten.
Der unablässig fallende Schnee hatte den Verkehr lahmgelegt. Überall bildeten sich lange Autoschlangen, die unter den weißen Schneemassen zur Bewegungslosigkeit verdammt waren. Es hatte den Anschein, als versuchten alle Einwohner gleichzeitig aus der Stadt herauszukommen – wie in einem Katastrophenfilm, wenn alle vor irgendeiner apokalyptischen Bedrohung flohen.
Während ich weiterstapfte, fiel mir auf, dass sich die Leute, die zu Fuß gingen, deutlich von jenen unter schieden, die in den Autos saßen. Die Autofahrer zogen finstere Gesichter und funkelten jede einzelne Schneeflocke böse an – inzwischen nahm der Schneef all blizzardartige Ausmaße an –, die gegen ihre Windschutzscheibe flog. Die Fußgänger hingegen lächelten vor sich hin, waren entspannt und sichtlich stolz auf sich, plauderten und lachten mit entgegenkommenden Passanten. Es war beinahe wie der vielgerühmte Zusammenhalt im Krieg, von dem unsere Großväter so schwärmten: Fremde Menschen verbündeten sich im Angesicht einer allgemeinen Bedrohung.
Als ich schließlich Wrens Apartmentblock erreichte, grinste ich wie ein Honigkuchenpferd, obwohl meine Augen von dem grellen Weiß ringsum brannten.
»Rauf mit dir!«, erklang Wrens Stimme knisternd aus der Gegensprechanlage, nachdem ich geklingelt hatte.
Als mir Wren die Tür öffnete, sprühte sie förmlich vor Lebensfreude. »Ein Tag Urlaub von der Schule, und obendrein ist bald Wochenende!«, juchzte sie und flitzte in die Küche. »Jetzt gibt es erst einmal einen großen Kakao mit Sprühsahne und Marshmallows. Einverstanden?«
Ich trat in die Küche aus schwarzem Granit und Walnussholz. »Meinst du wirklich, Zucker ist eine gute Idee, wenn du schon derart aufgedreht bist?«
Sie kicherte, und ihre kastanienroten Locken hüpften um ihr Gesicht. »Mir egal. Keine Schule, es schneit, und die Welt ist in Ordnung.«
Während Wren ihre selbstmörderische Zuckerbombe zubereitete, zog ich meine Stiefel aus, ließ mich aufs Sofa fallen und blickte durchs Fenster auf die schneebedeckten Dächer hinaus.
Kurze Zeit später kehrte Wren mit zwei riesigen Tassen sahnegekröntem Kakao zurück und setzte sich neben mich. »Was ich dich schon
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