Und das ewige Licht leuchte ihr - Granger, A: Und das ewige Licht leuchte ihr - Rattling the bones
Straßen fielen mitsamt Ednas Kirchhof den Bulldozern der Baukonzerne zum Opfer, und unsere Wege trennten sich. Ich lebte seither vergleichsweise komfortabel, doch bis zu jenem Morgen hatte ich nicht die geringste Ahnung, wohin Edna gegangen war oder ob sie überhaupt noch »bei uns« war, wie meine Großmutter Varady immer zu sagen pflegte. Die Menschen sprachen sehr vorsichtig über den Tod in unserem Haus, als würde sich so etwas bei anständigen Familien nicht ereignen. Ein weiteres der vielen Probleme, die ihnen bei ihrer Auseinandersetzung mit der Realität zu schaffen machten.
Edna mochte damals in den Rotherhithe-Tagen »bei uns« gewesen sein, doch sie war niemals ganz »bei sich«. Ihr Geist war bereits weitergezogen auf eine Ebene, die niemand von uns anderen zu erreichen oder begreifen vermochte. Wir nannten sie wenig freundlich die »verrückte alte Edna«, was nicht nur gefühllos, sondern schlichtweg falsch war. Wenn Ednas Verstand nicht arbeitete wie der von anderen Menschen, dann lag es daran, dass sie es so wollte. Sie war nicht krank; sie hatte sich für dieses Leben entschieden. Eine kleine Gestalt, die von Grabstein zu Grabstein huschte wie eine Krabbe auf den Felsen. Sie war mir stets unglaublich alt erschienen, auch wenn ihr richtiges Alter angesichts der zahlreichen Schichten von Kleidung, die sie trug, und ihrer Vorliebe für tief in die Stirn gezogene Wollhüte über widerspenstigen grauen Locken schwer zu schätzen war.
Ich hatte wirklich geglaubt, ich würde Edna niemals wiedersehen – doch da stand sie, ohne den Hauch eines Zweifels, und eierte die Camden High Street hinauf in Richtung U-Bahn-Station. Ihr Gang war stets genauso unverkennbar gewesen wie der ganze Rest. Sie bewegte sich zugleich seitwärts und vorwärts. Ich mag es nicht »watscheln« nennen, weil Watscheln ein beträchtliches zu bewegendes Gewicht vermuten lässt. Ednas Leibesumfang war durch ihre Kleidung verursacht, nicht durch Fettleibigkeit, und sie war flink und leicht auf den Füßen. Sie verlagerte ihr Gewicht geschickt von einer Seite auf die andere, um anschließend den unbelasteten Fuß ein paar Zoll nach vorn zu schieben, bevor sich der Vorgang mit dem anderen Fuß wiederholte. Es war eine Art Hüpfen, fast wie ein Tanzschritt. Ich hatte einmal einen Spielzeugclown, der auf die gleiche Weise durch unser Wohnzimmer sauste, bis jemand auf ihn getreten war.
Ich trabte aufgeregt los und hatte sie rasch eingeholt. »Edna!«, rief ich. »Warte! Ich bin es, Fran!«
Sie behielt den Kopf mit dem Wollhut unten und ließ sich durch nichts anmerken, ob sie mich gehört hatte oder nicht. Das war normal. Edna hat es nie gemocht, dass man ihr hinterherruft. Sie zog es vor, den Augenblick der Kontaktaufnahme selbst zu bestimmen, und pflegte – in den alten Tagen – auf beunruhigende Weise hinter schiefen Grabsteinen hervorzuspringen, um ihrem Gegenüber einen ziemlich heftigen Schrecken einzujagen, wie die solcherart Behandelten sich hinterher häufig beschwerten. Nun erwiderte ich diesen Gefallen, indem ich ihr direkt in den Weg sprang und sie auf diese Weise zum Stehenbleiben zwang. Ich bin nicht groß, doch Edna war noch viel kleiner, und ihr Wollhut reichte mir kaum bis ans Kinn.
»Komm schon, Edna«, redete ich auf sie ein. »Du erkennst mich wieder, ganz bestimmt.«
Sie unternahm keinen Versuch, sich an mir vorbeizuschieben, und ich war sicher, dass sie mich verstanden hatte. Doch sie schwieg beharrlich und stand mürrisch und mit eingezogenem Kinn da.
»Ich bin es, Fran«, wiederholte ich an die Adresse der schmuddeligen Wollmütze unter meinem Kinn. »Fran Varady. Ich hab in dem besetzten Haus in Rotherhithe gewohnt, du erinnerst dich? In dem Haus in der Jubilee Street, wo dieses junge Mädchen ermordet wurde.«
Es war reines Pech, dass in diesem Moment zwei Touristen vorbeikamen. Außerdem war Edna stets ein wenig schwerhörig gewesen oder hatte so getan, als ob, daher hatte ich laut und sehr vernehmlich gesprochen.
Die Touristen starrten mich entsetzt an und eilten weiter.
Endlich jedoch reagierte Edna. »Nein«, murmelte sie. Sonst nichts.
»Doch, Edna, du erinnerst dich. Komm schon, stell dich nicht so an, okay?«
Sie änderte ihre Meinung. Sie blickte zu mir auf, und in ihren tiefliegenden Augen glitzerte so etwas wie Schalk. »Ja, Fran. Selbstverständlich erinnere ich mich an dich, meine Liebe. Wie geht es dir? Was kann ich für dich tun?«
Ihre Stimme war stets außergewöhnlich gewesen.
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