Und das Glück ist anderswo
»unsere Rose. Uns lässt sie seit Jahren in dem Glauben, sie mache sich nichts aus Brüdern.«
»Es ist ein Mädchen«, sagte Liesel. »Wir Frauen sehen so etwas sofort, nicht wahr, Rose?« Sie freute sich an den Augen ihrer Tochter, lächelte ihr zu und drückte unter dem Tisch ihre Hand. Noch beim Schlafengehen fragte sie sich, weshalb diese Einvernehmlichkeit zwischen Rose und ihr nicht immer so sein konnte.
Die Frauen und Kinder umzingelten den Tisch, an dem die Gäste aus einer fremden Welt schneeweißes, dünn geschnittenes Brot aßen. Zunächst flüsterten nur die Kinder, bald trauten sich auch die Mütter, leise miteinander zu reden, doch dann ging der ganzen Gesellschaft gleichzeitig auf, dass die glücklichen Besitzer von Sandwiches, golden glänzenden Hähnchenkeulen und Obst sie nicht verstanden. Auf einen Schlag hörte das Getuschel auf. Frauen und Kinder redeten laut miteinander und lachten. Die Kleinsten der neugierigen Gruppe kicherten; es klang, als wären die Töne vom Wind durch das offene Fenster hereingeweht worden. Es war offensichtlich, dass die beiden Frauen und die älteren Kinder jede Bewegung der Procters registrierten und sie kommentierten, wobei sie in einer Sprache redeten, von der Liesel ganz sicher war, sie hätte sie noch nie gehört. »Tut mir Leid«, entschuldigte sie sich, »hier gibt es so viele verschiedene Sprachen. Die kann kein Mensch alle kennen.«
»Ich möchte bloß wissen, was du die ganzen Jahre als Kind getrieben hast?«, grummelte David. »Du kannst doch nicht immer nur mit dir selbst geredet haben oder mit deinen Eltern.«
Er hielt einem etwa vierjährigen Buben mit triefender Nase und verklebten Augen, der unmittelbar vor ihm stand, einen Apfel und den gegrillten Hähnchenschlegel hin, den er gerade erst aus dem Butterbrotpapier gewickelt hatte. Der Junge wich erschrocken zurück; er presste seine
Hände vor die Augen und schniefte leise, doch das unerwartete Angebot hatte bereits eine Kettenreaktion ausgelöst. Zehn Hände von im Chor schmatzenden Kindern kamen entschlossen auf David zu. Graziös wiegten die Frauen ihre Körper, das krähende Baby verstummte und öffnete seinen Mund. Der scheue kleine Junge, für den David die Leckerbissen gedacht hatte, gab sein Gesicht frei. Er brachte seine Arme in Kampfstellung, ballte seine Fäuste so fest, dass die Knöchel weiß leuchteten, brüllte zornig, sprang mit einem Satz nach vorn und sicherte sich den Apfel. Der Kleine hatte noch nie einen gesehen, und er verlor zu viel kostbare Zeit, indem er an der Frucht roch. Das älteste der Geschwister, auch ein Junge, etwa elf Jahre alt, groß und hager, gab seinem Bruder einen Schubs. Noch ehe der zu torkeln anfing, griff der Sieger nach dem Apfel und steckte ihn in die Tasche seiner zerlumpten Hose. Schon hielt er auch die Hähnchenkeule in seiner Linken. Sein Vater sagte einige Worte, die viele Vokale hatten und deshalb besonders liebenswürdig klangen, doch er nahm seinem reaktionsschnellen Sohn die Beute weg und übergab das Fleisch der Mutter mit dem Säugling auf dem Rücken. Sie ließ das Baby, das sie mit einer einzigen Bewegung auf ihren Bauch geholt hatte und das sofort begriff, was es tun sollte, und ein kleines Mädchen, das zwischen den Beinen der anderen Frau stand, lecken und fing dann selbst zu essen an. Sie hatte Zähne, die besonders hell in ihrem dunklen Gesicht leuchteten.
»Schön«, sagte Emil und errötete.
»Jedenfalls wäre ich«, schimpfte Liesel, »in deinem Alter nicht so blöd gewesen, einem Kind etwas zu geben, wenn ich nicht allen anderen auch etwas hätte geben können. Zählen konnte ich immer. In jeder Sprache, mein Lieber.«
»Meinst du mich?«, flachste ihr Mann. »Ich kann auch ganz gut zählen. Sogar auf Deutsch und Holländisch.« »Verschließe nicht die Hand vor deinem Bruder«, zitierte David.
»Wer sagt das? Dein geliebter Rabbi White?«
»Nein. Außerdem ist er nicht mein Rabbi. Mit anderen zu teilen, hat Moses schon den Kindern Israels ans Herz gelegt, als er sie in das Gelobte Land führte.«
»Bravo, mein Sohn«, lobte Emil, »man kann nicht früh genug damit beginnen, seine Eltern zu erziehen. Deine haben besonders pädagogisch begabte Kinder.« Er packte seinen Käsesandwich zurück in eine grüne Serviette, stand auf und brachte ihn der Frau, an deren Rock ein hustendes Krabbelkind hing. Der Rock war aus einem durchsichtigen roten Stoff. Sie duftete nach frischer Milch und lachte so lockend, dass Emil sich abermals
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