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Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Säugling auf dem Rücken der Mutter, fühlte sie eine Zärtlichkeit ihren Körper durchströmen, wie sie sie lange nicht mehr erlebt hatte. Zum ersten Mal seit Davids Einschulung überlegte sie, wie ihr Leben wohl mit einem dritten Kind aussehen würde. Sie legte ihre Hand auf Emils Knie und nahm sich vor, ihn spätestens beim Zubettgehen zu fragen, ob er Gedanken lesen könnte oder ob er nur ein guter Schauspieler war. Sie holte die Hand zurück von seinem Knie und streichelte seinen Arm. Er nickte und sagte: »Ja.«
    »Unser Eltern flirten miteinander«, schmollte Rose, »wie findest du das?« »Widerlich«, stimmte ihr David zu, »aber wir müssen Geduld mit ihnen haben. Alte Leute können sich oft nicht beherrschen.«
    »Wann hast du deine letzte Ohrfeige bekommen, mein Sohn?«
    »Von dir müsste ich noch die erste bekommen, mein Vater.«
    Anders als in Nakuru fürchtete Liesel nicht, ihre Erinnerungen würden sie schwach machen und Rechenschaft für kindliche Unterlassungssünden fordern. Ohne Vorbehalte genoss sie das Vergnügen an den kleinen, unerwarteten Erfolgen. Es machte ihr Spaß, wie gut sie sich an die Farmen von Kericho und unmittelbar danach an den Weg nach Londiani erinnern konnte. Stolz steckte sie die Karte ins Handschuhfach. Mit einem Mal war es ihr, als würde sie Bäume, Sträucher, jede Kurve und alle Steigungen kennen. Selbst ihre Kinder lobten sie. Emil pfiff Anerkennung. Ihre Nase machte lange Vergessenes aus. Nur einmal ließ ihre beflügelnde Konzentration nach. Da verwechselte Liesel die Zeiten und glaubte, sie würde nicht mehr neben ihrem Mann sitzen, sondern mit ihrem Vater nach Hause fahren. Die Züge seines Gesichts waren ihr nicht mehr präsent, aber sie sah seinen Hut, einen grauen Filzhut mit einem schmalen Rand, wie ihn viele Männer in den Fotoalben ihrer Mutter trugen. Sie hörte auch die Stimme des Vaters, und ein paar furchtbare Sekunden, die ihr wie Stunden erschienen, genierte sie sich, dass er Deutsch und nicht Englisch sprach und dass er zu viel gestikulierte.
    Sie atmete tief ein und setzte an, über die verschlungenen Pfade des Gedächtnisses zu sprechen. Da sah sie den Teich und die Dornakazien, in deren spärlichen Schatten schon immer in der Mittagszeit die Kühe gelegen hatten. Die
    Bäume schienen ihr kleiner geworden und kümmerlich, doch zweifelte sie nicht einen Lidschlag, dass der Teich genau jener war, den ihre beiden Onkel und der Vater im Jahre 1939 angelegt hatten, unmittelbar nachdem die Familie nach Londiani gekommen war. Das Wasser, in Lie-sels Gedächtnis eine silbern glänzende Fläche, entweder von der Sonne verschönt oder dem Vollmond bestrahlt und von wogenden Zedern umgeben, die an die Wolken stießen, war ohne Farbe, ohne Bewegung und ohne Leben. »Schade«, sagte Liesel. Sie dachte an die Enten, die sie als Kind und später mit einer jubelnden June gefüttert hatte. Eines der Entenküken war ein Schwan geworden. Mit langem Hals und schneeweißem Federkleid.
    »Werde ich auch ein Schwan?«, hatte June gefragt.
    »Du bist schon einer, meine Süße, der schönste Schwan von Afrika.«
    »Und du, Liesel? Was bist du?«
    »Ich werde immer eine Ente sein.«
    »Enten sind auch schön«, tröstete June.
    Dass sich Stimmen nie veränderten, nie alt wurden, nicht höher noch tiefer. Sie schlugen Nägel ins Gedächtnis und streuten Salz in die Wunden, und von der Zeit ließen sie sich nicht in die Irre führen. »Willst du anhalten?«, fragte Liesel.
    »Ich glaube«, entschied Emil.
    Er fuhr noch drei Minuten weiter, langsam wie einer, der am Ziel ist und dem Ziel nicht vertraut. Der Weg war verkrustet, obgleich es augenscheinlich lange nicht geregnet hatte. Reifenspuren waren nirgends zu sehen, nur ein Benzinkanister mit Dellen und ohne Deckel, die verrostete Lenkstange eines Fahrrads und ein von der Sonne gebleichter Tierschädel. Bis auf eine kleine Anpflanzung, in der sich kümmerliche Maispflanzen aus der Erde quälten, war der Boden der ehemals fruchtbaren Felder lange nicht mehr gepflügt worden. Die Hütten, in denen das Personal gewohnt hatte, waren zerfallen, die kleinen Gemüsegärten erdrosselt von wucherndem Gras. Das alte Wohnhaus kam sehr plötzlich in Sicht - wenigstens das war geblieben, dieses unmittelbare Auftauchen des Hauses aus einer Wand von dichtem grauen Licht. Tränen verbrannten Lie-sels Augen. Im Wirbel von sich überschlagenden Erinnerungen flossen Vergangenheit und Gegenwart ineinander. Ihre Familie, in Deutschland den

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