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Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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alte Frau muss ganz schön einsam sein ohne uns.« Davids Mutmaßungen entsprachen nur in Bezug auf die zu erwartende Wiedersehensfreude der Wirklichkeit. Ihm blieben noch acht Tage Zeit, ehe er zum ersten Mal mit dem Umstand konfrontiert werden sollte, dass im Leben am wenigsten Verlass auf Beständigkeit ist. Wesentlich weniger Zeit würde seine Großmutter haben, um den Ihrigen klar zu machen, dass sie weit jünger war als von ihnen angenommen und weder bedauernswert noch vereinsamt.
    Seit ihrem Umzug von Londiani in das Haus von Tochter und Schwiegersohn hatte sich Martha Freund absolut getreu den Vorstellungen ihrer Generation verhalten. In aller Augen - auch in den eigenen - war sie eine würdige Witwe. Von der kam noch nicht einmal eine Andeutung, sie könnte irgendwelche Ansprüche jenseits von guten und geregelten Mahlzeiten und einem Zimmer mit eigenem
    Zugang haben. Am allerwichtigsten: Sie zeigte sich stets stolz und zufrieden mit ihrer Rolle als hingebungsvolle Großmutter und empfand es immer noch als Kompliment, dass sie ihr Schwiegersohn eine »Patentoma« nannte und ihr zum Muttertag immer ein Sträußchen Vergissmeinnicht überreichte.
    Martha war nun neunundfünfzig Jahre alt, zur Begeisterung der Procters eine rastlos tätige und einfallsreiche Hausfrau, vorwiegend gesund und an allem interessiert, das ihren Geist bewegte. Das ließ sie sich allerdings nur in Ausnahmefällen anmerken - war sie allein im Haus, rezitierte sie beispielsweise beim Pulen von Erbsen Schillers »Taucher« und das, was ihr von seiner »Glocke« nach dem Schock der Auswanderung und fünfzehn Jahren afrikanischem Farmleben noch im Gedächtnis geblieben war. Zudem war diese liebenswert bedürfnislose Großmutter sehr kontaktfreudig. Wann immer sie konnte, trotzte sie den ironischen Bemerkungen ihrer Tochter und nahm an den Treffen ehemaliger deutscher und österreichischer Juden teil. Die fanden an jedem ersten Mittwoch im Monat im Heim einer wohlhabenden Zahnarztwitwe aus Graz statt. Deren schönes altes Haus hatte eine so gute Lage, dass nach dem Kaffee - mit einer Sachertorte, wie es sie noch nicht einmal in dem Wiener Café im Bezirk Hendon gab - meistens erholsame Spaziergänge in Hampstead Heath auf dem Programm standen.
    Die Frage, ob ihre häuslichen Pflichten zum Glück reichten oder ob die ständige Verleugnung der eigenen Bedürfnisse ihr wohl bekam oder nicht, stellte Martha sich nie. Sehr dankbar war sie dem Schicksal, dass es sie mit einem so zärtlichen und sanften Schwiegersohn bedacht hatte. Emil erwärmte ihr Herz und ihre Seele; mit jedem Wort und jeder Geste ließ er sie spüren, dass er in ihr die Mutter sah, die ihm als Zehnjährigem genommen worden war. Ebenso wohltuend bestätigten ihr die Enkel, dass es keinen Grund mehr für die depressiven Verstimmungen gab, die ihr Leben nach dem frühen Tod ihres Mannes lange Zeit umschattet hatten. Vor allem David brachte Heiterkeit und Herzlichkeit in Marthas Leben. Er umarmte sie ohne Scheu und meistens auch ohne Anlass. Kaum einer ihrer Bekannten mochte glauben, dass dieser rebellische Knabe mit dem kecken Mundwerk seiner Generation nie eine Spur von Ungeduld zeigte, wenn seine Großmutter Schwierigkeiten mit seiner Muttersprache hatte. Fast täglich dachte sie an die Zeit, als Liesel in seinem Alter gewesen war, und wie vorsichtig sie hatte sein müssen, um die schwierige Tochter bei Laune zu halten und sie nicht mit den eigenen Empfindungen und Hoffnungen zu belasten. Als sie ihre Kinder und Enkel zum Flughafen begleitete, hatte Martha wahrhaftig nicht im Sinn, sich mehr als nötig mit sich selbst zu beschäftigen. Allerdings übersah sie dabei die Entwicklung der letzten Monate und dass sie bereits sehr wesentliche Schritte getan hatte, um einen neuen Fixpunkt in ihrem Leben anzupeilen. Zunächst war ihr die Länge und die Kraft dieser Schritte entgangen. Sie hätte sonst Angst vor der eigenen Courage gehabt und alle Pläne umgehend als jene lästigen Wunschträume und späten Bewährungsversuche abgetan, zu der ihrer Meinung nach alternde Frauen keine Berechtigung mehr hatten. »Die gute alte Granny Gram Gramps« war dabei, noch einmal flügge zu werden.
    »Ich wollte«, resümierte sie später ihre Aufbruchszeit, »meine Flügel benutzen, ehe ich als Engel umherschwirre.« Selbstverständlich hatte Martha vor, weiter im Hause Proc-ter zu wohnen, aber die bis dahin unermüdliche Dienerin von zwei fordernden Teenagern und einer Tochter, die sich nur

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