Und das Glück ist anderswo
dass seine fromme Großmutter ihn gelehrt hatte, die Frauen zu ehren und in jeder die Gottesmutter zu sehen. Dass er ein Glückskind war, der die Verzückung der Liebe genoss wie ein Triumphator die Beute und doch seine Freiheit behielt, war dem Kochlehrling aus Nizza allerdings stets bewusst - noch am Tag, als er in Dover das Boot nach Calais bestieg.
Rose konnte selbst in den Momenten der dichtesten Illusion ihre Probleme nicht so geschickt lösen. Sie bezweifelte nicht, dass sie Pascal heiraten würde, und sie war überzeugt, dass dies auch sein Wunsch war. Allerdings zögerte sie das fällige Religionsgespräch zu lange hinaus. So versäumte sie nicht nur die Gelegenheit, ihrem Liebsten zu erzählen, dass sie jüdisch war. Sie unterließ auch zu Hause jeden Hinweis, dass sie den Mann ihrer Träume kennen gelernt hatte, dass er zwar durch sein Vermögen und seine Stellung in der Gesellschaft bestimmt auch Liesels Traum wäre, aber leider am achten Tage seines Lebens nicht beschnitten, sondern getauft worden war.
Die Reizbarkeit, die Rose’ Mutter sehr schnell und ihr Vater nur widerwillig bemerkten, fing an, als ihr dämmerte, wie brutal eine Lebenslüge mit Menschen umgeht. Sie grübelte bis zur Verzweiflung, wie sie Pascal von ihrem Elternhaus erzählen sollte, ohne ihn zu verschrecken, und noch mehr schreckte sie vor dem Gedanken zurück, ihrer Familie von Pascal Kenntnis zu geben. Täglich nahm sie sich vor, den Eltern klar zu machen, dass die Zeit gekommen war, ihren eigenen Weg zu gehen, doch es gelang ihr noch nicht einmal, Vater und Mutter anzuschauen, ohne dass ihre Hände zu zittern begannen. In ihrer Not erwog Rose gar, David um Hilfe zu bitten, doch allein schon der Gedanke, ausgerechnet ihrem frommen Bruder zu offenbaren, dass Pascal nicht jüdisch war, trieb sie weiter in das Netz der Lüge.
Dass Pascal nicht mehr in London war, erfuhr die verlassene Liebende zwei Tage nach seiner Abfahrt. Mrs Chopper, mit einer Zigarette im Mund und dem Besen in der Hand, übergab ihr einen Brief, den Rose allerdings nach dem ersten Schock als einen Beweis von Liebe empfand. »Verzeih mir, ich kann nicht anders«, hatte Pascal geschrieben. »Ich werde dich immer lieben.« Wie aufgewühlt der Bedauernswerte bei der Abfassung der Epistel gewesen war, schloss Rose aus der Tatsache, dass er vergessen hatte, sie zu unterschreiben.
Auf dem Weg von Notting Hill nach Hampstead weinte sie zum ersten Mal in ihrem Leben in der Öffentlichkeit. Wie Pascal bei der ersten Begegnung aber schon bemerkt hatte, gehörte Rose zu den Frauen, die Tränen noch schöner machen, als sie sind. Vielleicht war das der Grund, dass sie, als sie zu Hause den gewohnten Blick in den Spiegel tat, den Mut hatte, zu lächeln. Noch bewundernswerter war der Entschluss, Pascal Boucher, Besitzer des Hotels Negresco, in Nizza auf der Stelle und für immer zu vergessen.
Kurze Zeit später merkte Rose, dass sie schwanger war. Drei Tage danach kaufte sie sich morgens eine Fahrkarte nach Nizza. Am Abend holte sie die Puppe mit dem blauen Samtkleid aus dem Schrank und heftete ihr den Abschiedsbrief an die Hand. Anders als der flüchtige Pascal unterschrieb seine mutige Verfolgerin ihren letzten Gruß. Mit vollem Namen.
Davids Aufbruch
London, Januar 1971
»Für jede Trumpfkarte, die er in der Hand hat, wedelt unser David mit einer Niete«, sagte Emil am ersten Morgen des neuen Jahres. »Das war um Gottes willen keine Klage. Nur eine Feststellung. War das eigentlich schon immer so?« »Immer«, bestätigte Liesel. »Und das war sehr wohl eine Klage.«
Trotzdem schneite es Hoffnung. Die Welt wurde mit jedem Ticken der großen Standuhr in der Diele schöner. In einem sanften Wind tanzten winzige Schneeflocken Ballett; sie sahen so rein und unschuldig aus wie in alten Märchenbüchern. Der einzige Baum im Garten, der den wutschäumenden Sturm im November gesund überstanden hatte, hatte sich mit einer weißen Mütze und erstarrten Zweigen als Riese verkleidet. Es war ein Riese mit sanftem Gemüt, der seine gefrorenen Äste ausstreckte und versprach, dass im neuen Jahr alles anders und vieles besser werden würde. Er stellte gar in Aussicht, dass diesmal aus Apfelblüten Äpfel werden würden und aus dem Vergissmeinnicht am Rande des Rosenbeets ein Gedicht. Vielleicht würde gar das Eichhörnchen zurückkehren, das in den Nachbargarten umgezogen war, weil Martha es seit Rose’ Aufbruch nicht mehr regelmäßig mit Nusskuchen versorgt hatte.
»Hier hat es
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