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Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Vater sogar zu verstehen, dass er ihn für einen ganz passablen Kerl hält. So wird es uns auch eines Tages mit David gehen. Warte nur ab, der findet noch Freude an Jura und behandelt uns mit der Nachsicht, die Eltern verdienen. Vielleicht lacht er sich sogar eine Freundin an und lässt uns wissen, dass wir uns auch in dieser Beziehung zu viele Sorgen machen.«
    »Deine Phantasie möcht’ ich haben«, seufzte Liesel. »Oder ist es Optimismus?«
    Die von dem stolzen Vater am Neujahrstag erwähnten Trumpfkarten waren zwei Stipendien, für die andere Studenten ihre letzte Habe hergegeben hätten. David waren sie unmittelbar nach Abschluss der Schule angeboten worden. Er hätte entweder in Edinburgh oder in Oxford studieren können. Als eine Niete von besonderem Gewicht wurde dann von seinen Eltern der Umstand empfunden, dass David beide Stipendien umgehend abgelehnt hatte, und dies mit einer Begründung, für die Liesel und Emil wieder einmal Rabbi White schuldig sprachen. »Und am Sabbat«, hatte David mit denen gerechtet, deren Enttäuschung ihm genauso peinlich war wie in seinen Kindertagen, »gehe ich entweder in Oxford rudern, oder ich hänge mir in Edinburgh einen Dudelsack um.«
    Wie üblich stimmten die elterlichen Mutmaßungen in Bezug auf Rabbi White. Und wie seit Jahren deckten sie lediglich einen Teilaspekt der Wirklichkeit ab. Gewiss war der Einfluss des Rabbiners auf David mit jedem Jahr stärker geworden, und zweifellos bedingte Davids Fixierung auf das religiöse Element in seinem Leben ein sehr distanziertes Verhältnis zum irdischen Recht und zur irdischen Gerechtigkeit. Außer dem Umstand, dass ihn ohnehin nichts interessierte, was er auf einer weltlichen Universität hätte in Erfahrung bringen können, und er sich noch nicht traute, dies seinen Eltern zu offenbaren, gab es jedoch einen weiteren - sehr ausschlaggebenden - Grund für die Abneigung des jungen Procter, sich mit der ehrwürdigen Tradition von Oxford oder mit der Geschichte der Stadt Edinburgh zu beschäftigen. Nur in Ketten hätte sich David aus Hampstead wegbringen lassen. Die Ursache für diese Heimatverbundenheit galt in dem Umfeld, in dem er aufgewachsen und erzogen worden war, als ungewöhnlich, nein, als eine schier unvorstellbare Katastrophe für einen modernen jungen Mann in seinem Alter.
    Die Begegnung, die David zum Schicksal wurde, war einhundertunddreiundsechzig Zentimeter hoch, siebzehn Jahre alt und nach dem Dafürhalten ihrer Eltern seit mindestens einem Jahr sowohl ehetauglich als auch ehewillig. Mit jedem Zentimeter und erst recht durch einen Charakter und eine Erziehung, die Glaubenstreue und den Gehorsam gegenüber Gott und den Eltern als die heiligste Pflicht des Menschen empfanden, entsprach das junge Mädchen allen oberflächlichen, bornierten Klischeevorstellungen, die liberale Juden für ihre orthodoxen Glaubensgenossen parat halten. Sie hieß Miriam Myers. Soweit ihre Art, sich zu kleiden, eine Beurteilung ihres Äußeren zuließ, war sie zierlich und hatte schmale Schultern. Auch ihre Hände, die selbst an heißen Tagen aus langen Ärmeln hervorschauten, waren schlank. War Miriams Taille zu sehen, was nur sehr selten der Fall war, so war das zu Besichtigende erstaunlich. Es handelte sich um die klassische, von allen Frauen in der westlichen Welt erträumte Wespentaille, und niemand wäre auf die Idee gekommen, sie mit den fetten Speisen und den schweren Kuchen der jüdischen Küche in Verbindung zu bringen.
    Miriams Vater war Rabbiner, ihr Großvater und ein Onkel waren es auch. Ihre Mutter erwähnte dies mindestens einmal pro Tag, damit ihre Kinder nicht auf die Idee kamen, sie dürften so sein wie andere. Das älteste der sechs war ebenso zurückhaltend wie wohlerzogen. Nur an ihre drei Brüder und an die beiden Schwestern richtete Miriam ohne Aufforderung das Wort. Das scheue junge Mädchen überließ es ihren schönen Augen, für sie zu sprechen; wäre sie ein Teenager wie die Genormten und Unbelasteten der ungezwungenen Siebziger gewesen, wäre ihr diese Art der Kommunikation bestimmt als Koketterie und zu früh entwickelte Weiblichkeit ausgelegt worden. In der Welt von Miriam Myers zählte Koketterie allerdings nicht zu den Ausdrucksmöglichkeiten, die für eine junge Frau infrage kamen. Dennoch war es so, dass Miriams dunkle Augen mit den langen Wimpern spontan Menschen verzauberten, so sie gewillt waren, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
    Die gleiche Wirkung ging von ihrem Lächeln aus. Es

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