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Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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verhieß nie, wie in der Welt der jungen Lebensentdecker, gute Laune, Erwartung und Fröhlichkeit, doch immer Wärme, Freundlichkeit und Lebensbestätigung. Ihr Haar, schwarz, dicht, wellig, reichte bis zu den Schultern. Miriam ließ es nur sehen, wenn sie im Schutz der Ihrigen war. Auf der Straße verbarg sie das schöne Haar unter grob gestrickten Wollmützen oder Kopftüchern, die sie wie die russischen Bauersfrauen auf den Bildern von Marc Chagall band. Ihr Teint erweckte den Eindruck, sie würde den ganzen Sommer im Bikini auf dem Balkon liegen oder sich an der italienischen Riviera sonnen. Tatsächlich hatte Miriam noch nie das Meer und auch noch nie einen Bikini gesehen, weder in einem Schaufenster noch in einer Modezeitschrift.
    Chic oder Charme waren Begriffe, die sie nicht beschäftigten. Dass es Modezeitschriften gab, wusste sie, denn auf dem Weg zur Schule kam sie an einem Zeitungsstand vorbei, doch es wäre ihr auch dann nicht in den Sinn gekommen, eine solche Zeitschrift zu kaufen, wenn sie Geld in der Tasche gehabt hätte. Miriam trug keine Jeans, mit denen sie sich, wie einst Rose, in die gefüllte Badewanne hätte legen können, damit die Hosen noch enger wurden, als sie waren, und die Hüften der Trägerin schmal, wohlgeformt und sexy wirkten. Miriams Röcke waren weit und sowohl im Sommer als auch im Winter aus einem derben aschgrauen Wollstoff geschneidert, der so strapazierbar war, dass die Röcke auf die beiden jüngeren Schwestern übergehen konnten, ohne dass die Mädchen ärmlich wirkten.
    Die verhüllenden Röcke ließen nicht den Hauch einer Ahnung zu, ob die Hüften der Trägerin schmal oder, was als Segen empfunden wurde, zum Gebären geeignet waren. Kleider und Röcke reichten bis zu den Waden; sie zwangen zu weit ausholenden Bewegungen und erweckten den Eindruck, Miriam würde durch hohes Gras marschieren. Dass sie lange schlanke Beine hatte und ihre Fesseln wohlgeformt waren, stellte David erst an dem Tag fest, der für ihn noch als Achtzigjährigen zu den glücklichsten in seinem Leben zählen sollte. Als er sie kennen lernte und noch Jahre später, trug Miriam dicke Wollstrümpfe und schwarze Schuhe mit flachem Absatz.
    Ihr Vater war ein Kollege von Rabbi White - nur sehr viel orthodoxer als der. Ihr ältester Bruder war zwölf Jahre alt, von rührendem Eifer und minderer Begabung. Er hatte enorme Schwierigkeiten, das Lernpensum für seine Bar-mitzwa einzuüben, und er war es, mit dem David auf Vermittlung von Rabbi White jeden Montag und Donnerstag zwei Stunden übte. Ein Jahr lang hatte David zwar gewusst, dass Rabbi Myers’ Sohn zwei jüngere Brüder und drei Schwestern hatte, doch bei seinen Besuchen im Haus des Rabbiners war er immer nur dem männlichen Teil der Familie und nie der Frau und den Töchtern begegnet. Entscheidend für Davids Lebensweg wurde die Bitte von Rabbi Myers, der geduldige junge Tutor möge auch nach der Barmitzwa seinen Sohn weiter betreuen. »Der Junge mag dich«, hatte er gesagt. »Man muss ihm helfen zu lernen. Er ist nicht gescheit, doch so was hat seine Vorteile. Dümmer kann er nicht mehr werden, aber vielleicht wird er ein kleines bisschen klüger.«
    »Simon ist so, wie ein Mensch sein muss, der immer nur dazulernen kann«, hatte David eingewandt.
    Diese diplomatische Formulierung, die fast an eine Lüge grenzte, war von einem gefunden worden, der sich stets bewusst war, wie es um die gewaltige Sehnsucht von Vätern steht. Sie erhoffen allzeit für ihre Söhne den Glanz, der ihnen selbst verwehrt war.
    »Mein Vater wünscht sich ein Genie zum Sohn«, hatte es Nat Glueck einmal ausgedrückt. Damals waren die Freunde gerade in die sechste Klasse versetzt worden. Nat hatte zum Abschluss des Schuljahres eine Auszeichnung für Geschichte bekommen, David den ersten Preis für Algebra und eine öffentliche Belobigung für seine Jahresarbeit über die Lebensgewohnheiten und Riten der Pygmäen.
    »Das ist noch gar nichts«, hatte David erwidert, »meiner hält mich für ein Genie.«
    Rabbi Myers hatte solche Träume nicht. Ihm hätte es gereicht, und er hätte zweimal täglich dem Allmächtigen für seine Güte und Gnade gedankt, wenn seine drei Söhne wenigstens halb so klug wie seine Töchter gewesen wären. Umso mehr wusste er es zu schätzen, dass es David gelungen war, den schwerfälligen Simon zu loben, ohne das Ohr des Vaters mit törichten Schmeicheleien zu verstopfen und ihm Versprechungen zu machen, die nicht von einem Menschen zu halten waren.

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