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Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Thermometer in Nizza zwanzig Grad an. Duftige Wolken tollten wie Lämmer über den Himmel. Die Berge in der Ferne leuchteten tagsüber in dem zarten Grün, mit dem sich die Hoffnung schmückt. In der Abenddämmerung glühten sie violett, und sobald sich die Sonne verabschiedete, sah das Meer wie ein dunkles Samttuch aus. Es war ein wärmender Wind, der die weißen Steine am Ufer und die Haut der Menschen streichelte, die auf ihnen lagen, um den Sommer gebräunt zu begrüßen. Seit Jahren hatten die Bäume und Blumen nicht so früh und so üppig geblüht wie im Frühjahr 1971. Zum ersten Mal sah Rose Orangen am Baum hängen, sah die üppigen Dolden der Mimosen, die auch denen ihren betäubenden Duft spendeten, die am Boden lagen und nicht aufzustehen vermochten. In den Obstgeschäften türmten sich leuchtende Pyramiden aus Zitronen, doch der Schockzustand, der Rose schon am Bahnhof von Nizza befallen hatte, ließ sie nicht mehr aus seinen Klauen. Sie glaubte weder ihren Augen noch der Nase. Aus den alten Gärten grüßten marmorne Putten. Sie standen in Hainen aus Efeu, ihre Stupsnasen zum blauen Himmel gerichtet. Zu ihren Füßen blühten zarte Schlüsselblumen und die ersten Rosen, an den geschmiedeten Zäunen dufteten Büsche von Jasmin, aus denen schon bald zitronengelbe Schmetterlinge flatterten. Aber selbst von den liebenswürdigen Putten mit dem unschuldigen Kinderblick, die sie in ihrem früheren Leben begeistert hätten, nahm Rose nicht die Botschaft entgegen, dass auch zu ihr irgendwann wieder die Lebensfreude und das Glück zurückkehren würden.
    Für Rose strahlten keine Sterne mehr. Die Gegenwart war zu bleischwer, als dass sie sich noch hätte erinnern können, dass jedem Menschen eine Zukunft bestimmt ist. Die, die zu hoffen verlernt hatte, war verängstigt, ausgebrannt und leer. Sie suchte den Horizont nach keinem Silberstreifen mehr ab. Wenn sie die Angst vor der Zeit lähmte, die ihr bevorstand, wünschte sie sich, obwohl ihr die Sünde bewusst war, den Tod. Am meisten peinigten Rose ihr gebrochener Stolz und die Scham, die diesem Bruch folgte. Sie fühlte sich erniedrigt, abgestempelt, für immer befleckt, weil ein Mann, der zu ihr von Liebe gesprochen hatte und um dessentwillen sie Vernunft, weibliche Intuition, Moral und Erziehung vergessen hatte, sie bei der herzlosen Madame Versagne deponiert hatte. »Wie ein Postpaket, das noch seinem Empfänger zugestellt werden soll«, schrieb sie in einem der fiktiven Briefe an die Großmutter. Es wurden wöchentlich mehr, in denen sie um Hilfe rief und die nicht abgeschickt wurden.
    Ihr Aussehen beschämte Rose so, dass die kaum noch in den Spiegel schaute. Über die Jeans, die sich nicht schließen ließen, trug sie ein altes weißes Hemd ihres Vaters, das ursprünglich ihr Nachthemd gewesen war und in dem ihre Haut noch teigiger wirkte, als sie war. Der einzige Rock, den sie in der Eile mitgenommen hatte, war ein enger, der ihre Wespentaille und die schmalen Hüften hatte betonen sollen. Nun lag er, ordentlich gefaltet, ab und an gestreichelt, auf dem Boden der Reisetasche. Die T-Shirts, die sie unter dem verhassten Hemdengewand anzog, spannten über der Brust, von der Rose mit Entsetzen feststellte, dass sie bereits im zweiten Monat größer und runder als die von ihrer Mutter war. Selbst die Schuhe schienen ihr zu klein geworden. Allzeit war sie sich Madames Blicken bewusst, wenn sie das Haus verließ, und sie gab ihr Recht.
    Rose Procter, die schon als Vierzehnjährige trotz strikten Verbots der Direktorin morgens das Haus nie verlassen hatte, ohne die Lippen zu schminken und ihre Augenbrauen nachzuziehen, sah nach ihrem eigenen vernichtenden Urteil genauso aus, wie sie sich daheim eine Schlampe vorgestellt hatte. In den Momenten größter Verzweiflung nahm sie sich vor, mit Pascal zu erörtern, wie sie an Umstandskleider kommen könnte, doch das Thema genierte sie. Das bisschen Geld, das sie aus ihrem Elternhaus mitgenommen hatte - ihre eigene Barschaft und einen größeren Betrag aus dem Portemonnaie ihrer Mutter -, ging zur Neige. Pascal bezahlte die Miete bei Madame. Ein einziges Mal hatte er von Geld gesprochen.
    »Muss ich nicht zum Arzt?«, hatte ihn Rose gefragt. »Ich glaube, das ist bei Schwangeren so üblich.«
    »Hast du denn Geld, Chérie, um ihn zu bezahlen? Der kostet einiges. In Frankreich ist das so üblich.«
    Es hatte nach ihrer Ankunft in Nizza keine drei Tage gedauert, bis Rose begriffen hatte, was einem jungen, unerfahrenen

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