Und dennoch ist es Liebe
Cleveren erschaffen sich allerdings wirklich ein ganz neues Image. Ich habe einmal einen Kerl gefunden, der sich eine neue Identität gegeben hatte, nachdem er in einer Bar mit einem Kerl gequatscht hatte, der ihm ähnlich gesehen hat. Sie haben die Ausweise verglichen, nur so aus Spaß, und der Mann hat sich die Führerscheinnummer des Kerls gemerkt und sich dann eine Kopie davon besorgt, indem er beim Amt erklärt hat, der alte sei ihm gestohlen worden. Es ist wirklich nicht schwer, jemand anderes zu werden. Man schaut in die Lokalzeitung und sucht sich den Namen von jemandem, der in der letzten Woche gestorben ist und ungefähr genauso alt war wie man selbst. So hat man dann schon mal einen Namen und eine Adresse. Anschließend geht man dann an den Ort, wo derjenige gestorben ist, fragt beim Amt nach und Bingo! Man hat eine Geburtsurkunde. Die Beamten prüfen nämlich nicht nach, ob man mit dem Verstorbenen verwandt ist oder nicht. Die Angabe von Namen oder Adresse reicht, und sie stellen dir so einen Wisch aus. Anschließend geht man dann zur Sozialversicherung und erzählt denen irgendeine haarsträubende Geschichte, das Portemonnaie sei geklaut worden oder so, und man bekommt eine neue Sozialversicherungskarte mit diesem neuen Namen. Es dauert nämlich eine halbe Ewigkeit, bis das Standesamt eine Sterbeurkunde an die Sozialversicherung weiterleitet. Und schließlich zieht man den gleichen Mist noch einmal beim Straßenverkehrsamt durch, und schon hat man auch einen Führerschein …« Er zuckte mit den Schultern und drückte die Zigarette auf dem Boden aus. »Was ich damit sagen will, Paige, ist Folgendes: Ich kenne das. Ich habe Verbindungen. Ich bin deiner Mutter einen Schritt voraus.«
Ich dachte an die Nachrufe, die meine Mutter geschrieben hatte. Es wäre ihr in der Tat ein Leichtes gewesen, jemanden in ihrem Alter zu finden, der kurz zuvor gestorben war. Und sie hatte sich diesen Menschen ja immer so verbunden gefühlt und sogar ihre Gräber besucht, als wären sie alte Freunde gewesen. »Womit willst du anfangen?«, fragte ich.
»Ich werde mit der Wahrheit beginnen. Ich werde all die Informationen nehmen, die du mir gegeben hast, und das Hochzeitsfoto, und dann werde ich mich mal in deinem Viertel in Chicago umhören, ob sich irgendwer an sie erinnert. Anschließend werde ich ihren Führerschein und ihre Sozialversicherung überprüfen. Wenn das nichts ergibt, werde ich mir die zwanzig Jahre alten Todesanzeigen in der Tribu ne anschauen. Und sollte auch das nichts bringen, werde ich mir das Hirn zermartern und mich fragen: ›Was zum Teufel steht jetzt an?‹ Jedenfalls werde ich sie finden, und du wirst eine Adresse von mir bekommen. Und wenn du willst, dann werde ich auch zu ihr gehen, ihren Müll durchwühlen, bevor die Stadtwerke ihn abholen, und dir alles über sie erzählen, was du wissen willst: was sie zum Frühstück isst, was für Post sie bekommt, ob sie verheiratet ist oder mit jemandem zusammenlebt und ob sie Kinder hat.«
Ich stellte mir meine Mutter vor, wie sie ein anderes Baby in den Armen hielt. »Ich glaube nicht, dass das nötig sein wird«, flüsterte ich.
Eddie stand auf um das Treffen zu beenden. »Ich bekomme fünfzig Dollar die Stunde«, erklärte er, und ich wurde blass. Ich konnte ihn unmöglich länger als drei Tage bezahlen.
Jake trat hinter mich. »Das ist okay«, sagte er. Er drückte meine Schulter, und seine Worte klangen sanft in meinem Ohr. »Mach dir keine Sorgen deswegen.«
*
Ich ließ Jake im Wagen warten und rief Nicholas unterwegs von einer Telefonzelle aus an. Es klingelte viermal, und ich dachte schon darüber nach, was ich ihm auf den Anrufbeantworter sprechen wollte, als Nicholas sich plötzlich meldete. Er war außer Atem. »Hallo?«
»Hallo, Nicholas«, sagte ich. »Wie geht es dir?«
Er schwieg. »Rufst du an, um dich bei mir zu entschuldigen?«
Ich ballte die Fäuste. »Ich bin in Chicago«, sagte ich und versuchte, meine Stimme so ruhig wie möglich klingen zu lassen. »Ich werde meine Mutter finden.« Ich zögerte, und dann fragte ich, was mich schon die ganze Zeit beschäftigte: »Wie geht es Max?«
»Offensichtlich«, erwiderte Nicholas, »ist dir das doch scheißegal.«
»Natürlich ist mir das nicht egal. Ich verstehe dich nicht, Nicholas. Warum kannst du das nicht als einen Urlaub oder einen Besuch bei meinem Vater betrachten? Ich war seit acht Jahren nicht mehr hier. Und ich habe dir gesagt, dass ich wieder nach Hause komme. Es wird
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