Und dennoch ist es Liebe
würde, vielleicht sogar wütend, denn schließlich hatte ich ihm all die Jahre erzählt, meine Mutter sei tot. Doch Jake hatte mich nur angelächelt. »Nun«, sagte er, »das wird aber auch Zeit.« An seiner Berührung erkannte ich, dass er es schon die ganze Zeit über gewusst hatte. Dann sagte er mir, er habe da einen Freund, der mir vielleicht helfen könne, und gemeinsam machten wir uns auf den Weg.
Eddie Savoy war Privatdetektiv. Er hatte als Hilfskraft für einen anderen Detektiv gearbeitet. Dann war er zur Army gegangen, als die Lage am Golf sich zugespitzt hatte, und als er wieder zurückkam, war er es leid, immer nur Befehlsempfänger zu sein. Also hatte er seine eigene Agentur eröffnet.
Eddie führte uns in einen kleinen Raum, der in einem anderen Leben wohl eine Kühlkammer für Fleisch gewesen war. Jake und ich setzten uns auf indische Kissen, die auf dem Boden lagen, und Eddie hockte sich uns gegenüber. »Ich hasse Stühle«, erklärte er. »Sie sind nicht gut für meinen Rücken.« Ein niedriger Couchtisch diente ihm als Schreibunterlage.
Eddie war nicht viel älter als Jake, doch sein kurzgeschorenes Haar war bereits vollkommen weiß, und sein Gesicht zierte ein Stoppelbart. Genau betrachtet erinnerte mich sein Kopf an einen Tennisball. »So«, sagte er und nahm mir das alte Hochzeitsfoto aus der Hand, »du hast deine Mom also seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.«
»Genau«, antwortete ich, »und ich habe bis jetzt auch nicht versucht, sie zu finden.« Ich beugte mich vor. »Habe ich da jetzt noch eine Chance?«
Eddie lehnte sich zurück und zog eine Zigarette aus dem Ärmel. Er zündete sie sich an und nahm einen tiefen Zug. Als er wieder sprach, waren seine Worte in eine Rauchwolke gehüllt. »Deine Mutter«, sagte er zu mir, »ist ja nicht vom Erdboden verschluckt worden.«
Eddie erklärte mir, dass es nur auf die Zahlen ankam. Den Zahlen konnte man nicht entkommen, jedenfalls nicht einfach so. Sozialversicherungsnummer, Kraftfahrzeuganmeldungen, Schulakten, Steuernummern. Selbst Menschen, die ihre Identität wechselten, beantragten irgendwann Rente oder zahlten Steuern, und so konnte man sie finden. Erst letzte Woche, erzählte Eddie, habe er in nur einem halben Tag ein Kind gefunden, das seine Mutter zur Adoption freigegeben hatte.
»Was, wenn sie ihre Sozialversicherungsnummer geändert hat?«, fragte ich. »Was, wenn sie nicht mehr May heißt?«
Eddie grinste. »Wenn man seine Sozialversicherungsnummer wechselt, wird diese Änderung amtlich vermerkt, einschließlich Adresse und Alter des Antragstellers. Man kann nicht einfach aufs Amt gehen und sich die Nummer eines anderen nehmen. Auch wenn deine Mutter also die Nummer eines anderen benutzt – ihrer Mutter zum Beispiel –, werden wir sie noch finden können.«
Eddie schrieb sich auf, was ich ihm über unsere Familiengeschichte erzählen konnte. Er war besonders an Erbkrankheiten interessiert, denn er hatte gerade erst einen Fall dank einer erblich bedingten Diabetes gelöst. »Die ganze Familie der Frau hatte Zucker«, sagte er. »Ich habe sie drei Jahre lang gejagt, und ich wusste, dass sie in Maine war, trotzdem konnte ich ihren genauen Aufenthaltsort nicht ermitteln. Und dann fiel mir auf, dass sie genau in dem Alter war, in dem ihre Verwandten zu sterben begonnen hatten. Also habe ich in jedem Krankenhaus in Maine angerufen und nach Patienten mit Diabetes gefragt. Und über die Wohlfahrt habe ich sie dann erwischt.«
Vor meinem geistigen Auge sah ich meine Mutter von der Wohlfahrt leben, womöglich sogar auf der Straße, und ich zuckte unwillkürlich zusammen. »Was, wenn meine Mutter nicht mehr meine Mutter ist?«, fragte ich. »Es ist immerhin schon zwanzig Jahre her. Was, wenn sie irgendwie doch eine neue Identität gefunden hat?«
Eddie blies Rauchringe, die sich langsam ausdehnten und an meinem Hals zerplatzten. »Eins musst du wissen, Paige«, sagte er. »Menschen sind meist nicht besonders kreativ. Wenn sie sich eine neue Identität erschaffen, dann machen sie meist irgendwelche Dummheiten, wie zum Beispiel ihren ersten und zweiten Vornamen zu vertauschen. Sie verwenden ihre Mädchennamen oder den Nachnamen eines verhassten Onkels. Oder sie schreiben ihren richtigen Namen einfach anders und ändern eine Zahl bei ihrer Sozialversicherungsnummer. Sie sind so gut wie nie bereit, wirklich alles aufzugeben, was sie hinter sich gelassen haben.« Er beugte sich vor und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Die richtig
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