Und dennoch ist es Liebe
ins Bett und stellt sich Paige vor, die draußen wie ein Opferlamm unter freiem Himmel liegt. Seine letzten bewussten Gedanken gelten seinen Bypasspatienten und dem Moment während der Operation, in dem er das Herz eines Patienten anhält. Und er fragt sich, ob die Patienten das spüren.
K APITEL 35
P AIGE
Anna Maria Santana, die ich nie gekannt habe, ist am 30. März 1985 geboren und auch gestorben. UNSER VIER-STUNDEN-ENGEL steht auf dem Grabstein, der zwischen den anderen Gräbern noch immer recht neu wirkt. Das Grab liegt auf dem Friedhof, über den ich während meiner Schwangerschaft immer gewandert bin. Ich weiß nicht, warum mir Anna Marias Grab damals nie aufgefallen ist. Es ist sauber und ordentlich, und Veilchen blühen am Rand. Irgendjemand kommt offenbar häufig hierher, um das kleine Mädchen zu besuchen.
Es ist mir nicht entgangen, dass Anna Maria Santana ungefähr zur selben Zeit gestorben ist, als ich mein erstes Kind empfangen habe. Plötzlich wünschte ich, ich hätte auch etwas, das ich hierlassen könnte – eine Rassel oder einen pinkfarbenen Teddybären –, und dann wird mir bewusst, dass sowohl Anna Maria als auch mein eigenes Kind inzwischen acht wären und die Babysachen schon längst gegen Barbies und Fahrräder getauscht hätten. Ich höre die Stimme meiner Mutter: In meinem Kopf warst du immer fünf Jahre alt. Und bevor ich es mich versehen hatte, warst du erwachsen geworden.
Irgendetwas muss geschehen, und zwar bald. Nicholas und ich können nicht ständig aufeinander zugehen und uns dann wieder voneinander losreißen wie bei einem seltsamen Stammestanz. Ich habe heute nicht mehr versucht, wieder ins Mass General zu gehen, und ich werde auch nicht zu den Prescotts fahren, um Max zu besuchen. Ich darf Nicholas nicht noch mehr unter Druck setzen, denn er steht kurz vor dem Zusammenbruch. Dieser Zustand macht mich ruhelos, ich werde nicht weiter herumsitzen und ihn über meine Zukunft entscheiden lassen, wie er das früher immer getan hat. Aber ich kann ihm nicht die Augen für etwas öffnen, das er nicht sehen will.
Ich bin auf den Friedhof gegangen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Das hat bei meiner Mutter funktioniert, und jetzt hoffe ich, dass das auch bei mir so sein wird. Ich habe Nicholas die Wahrheit gesagt, was meine Flucht betrifft, aber ich bin noch immer nicht mit mir ins Reine gekommen. Was, wenn Nicholas mich plötzlich mit offenen Armen auf der Veranda erwartet, wenn er bereit ist, da weiterzumachen, wo wir aufgehört haben? Werde ich dann die gleichen Fehler noch einmal machen?
Vor Jahren habe ich mal einen Leserbrief in einer Zeitschrift gelesen, in dem ein Mann gestanden hat, eine Affäre mit seiner Sekretärin zu haben. Es ging schon über Jahre, doch er hatte seiner Frau nie etwas davon erzählt, und obwohl sie eine glückliche Ehe führten, hatte er das Gefühl, ihr alles sagen zu müssen. Ich war überrascht gewesen, was die Ratgebertante ihm darauf geantwortet hatte: Damit öffnen Sie die Büchse der Pandora. Was sie nicht weiß, kann sie auch nicht verletzen.
Ich weiß nicht, wie lange ich noch warten kann. Ich würde Max nie nachts aus seinem Bettchen holen und mit ihm durchbrennen, wie Nicholas scheinbar glaubt. Das könnte ich Max nicht antun und Nicholas ganz besonders nicht. Nachdem er drei Monate mit Max zusammen war, scheint er weicher geworden zu sein. Der Nicholas, den ich im Juli verlassen habe, wäre nie auf allen vieren um eine Ecke gekrochen und hätte so getan, als wäre er ein Grizzlybär, um seinen Sohn zu unterhalten. Aber allein schon aus praktischen Gründen kann ich nicht ewig im Vorgarten schlafen. Wir haben Mitte Oktober, und die ersten Blätter fallen von den Bäumen. Nachts hat es bereits gefroren, und bald wird es Schnee geben.
Ich gehe zum Mercy in der Hoffnung, von Lionel eine Tasse Kaffee zu bekommen. Das erste vertraute Gesicht, das ich sehe, ist Doris. Sie bringt zwei Teller in eine Nische und läuft dann zu mir, um mich in die Arme zu nehmen. »Paige!« Durch die Durchreiche brüllt sie in die Küche: »Paige ist wieder da!«
Lionel kommt sofort herbeigerannt und macht eine große Show daraus, mich am Tresen auf einen der alten roten Hocker zu setzen. Das Mercy ist kleiner, als ich es in Erinnerung hatte, und die Wände sind vor lauter Nikotin kränklich gelb. Würde ich den Laden nicht kennen, es wäre mir unangenehm, hier zu essen. »Wo ist das tolle Baby?«, fragt Marvela und beugt sich dicht an mich heran, sodass
Weitere Kostenlose Bücher