Und dennoch ist es Liebe
Meine Zeichnungen würden an den Wänden des Mass General hängen, sodass Nicholas immer an mich erinnert werden würde, auch wenn ich nicht da war.
Ich lächelte Nancy an. »Wo sollen wir anfangen?«
Drei Tage später sind wir damit beschäftigt, die Ausstellung einzurichten. Nancy läuft durch den Flur und tauscht das Porträt von Mr. Kasselbaum gegen eines von Max. »Der Gegensatz von Jung und Alt«, sagt sie. »Frühling und Herbst. Hach, ich liebe es.«
Am anderen Ende der Ausstellung, neben der Rezeption, gibt es eine weiße Karte, auf die mein Name gedruckt ist. PAIGE PRESCOTT, steht dort zu lesen, EHRENAMTLICHE HILFSKRAFT. Es gibt keine Biografie, nichts, was auf Nicholas oder Max hindeuten würde, und das ist irgendwie nett. Das gibt mir das Gefühl, aus dem Nichts plötzlich ins Scheinwerferlicht getreten zu sein, als hätte ich keine Vergangenheit.
»Okay, okay … Aufhängungsorte …«, ruft Nancy und fasst mich an der Hand. Außer uns sind nur noch zwei Hausmeister mit Leitern und Drahtscheren im Flur, und keiner von beiden spricht sonderlich gut Englisch. Deshalb weiß ich auch gar nicht genau, mit wem Nancy eigentlich redet. Sie zieht mich zur Seite und atmet tief durch. »Tada!«, trillert sie, obwohl sich gegenüber dem letzten Moment gar nichts verändert hat.
»Das ist schön«, sage ich, weil ich weiß, dass Nancy darauf wartet.
Nancy strahlt mich an. »Kommen Sie morgen mal vorbei«, sagt sie. »Wir denken darüber nach, unsere Briefköpfe zu verändern, und wenn sie auch Ahnung von Kalligrafie haben …« Sie lässt den Satz unvollendet.
Nachdem sie mit den Arbeitern und den Leitern im Aufzug verschwunden ist, stehe ich allein im Gang und schaue mir meine eigene Arbeit an. Das ist das erste Mal, dass meine Fähigkeiten ausgestellt werden. Ich bin gut. Ich habe ein freudiges Kribbeln im Bauch, und ich gehe den Flur hinunter und berühre jedes einzelne Bild. Jedes einzelne erfüllt mich mit Stolz, und ich signiere sie alle mit meinen Fingerabdrücken.
*
Als ich eines Abends nach Hause komme, ist es im Haus so dunkel wie im Wald. Ich gehe in die Bibliothek, um meine Mutter anzurufen. Dabei komme ich an Astrids und Roberts Zimmer vorbei, und ich höre sie Liebe machen, und aus irgendeinem Grund bekomme ich Angst, anstatt verlegen zu sein. Als ich in der Bibliothek ankomme, setze ich mich in Roberts großen Ohrensessel und halte das schwere Telefon in der Hand wie eine Trophäe.
»Ich habe vergessen, dir etwas zu erzählen«, sage ich, als meine Mutter ans Telefon geht. »Wir haben das Baby nach dir benannt.«
Ich höre, wie meine Mutter nach Luft schnappt. »Du sprichst also doch noch mit mir.« Sie hält kurz inne und fragt mich dann, wo ich bin.
»Ich wohne bei Nicholas’ Eltern«, antworte ich. »Du hattest übrigens recht, was das Zurückkommen betrifft.«
»Ich wünschte, es wäre anders«, sagt meine Mutter.
Ich wollte sie nicht wirklich anrufen, aber ich konnte nicht anders. Nun, da ich sie gefunden habe, brauche ich sie einfach. Ich will ihr von Nicholas erzählen, mit ihr wegen der Scheidung weinen und ihre Vorschläge und Meinung hören.
»Tut mir leid, wie du von hier weggegangen bist«, sagt sie.
»Das muss dir nicht leid tun.« Ich will ihr sagen, dass das niemandes Schuld ist. Und ich denke an die saubere Luft in North Carolina, die mir morgens immer so gutgetan hat. »Ich hatte eine nette Zeit bei dir.«
»Nett? Um Himmels willen, Paige«, sagt sie. »Das hört sich an, als würdest du mit einer Herbergsmutter reden.«
Ich reibe mir die Augen. »Okay«, sage ich, »ich hatte keine nette Zeit bei dir.« Aber das ist gelogen, und das weiß sie auch. Vor meinem geistigen Auge sehe ich uns beide, wie wir uns an Donegal schmiegten, als er kaum stehen konnte. Und ich sehe, wie ich den Arm um meine Mutter gelegt habe, als sie nachts geweint hat. »Ich vermisse dich«, sage ich, und anstatt mich leer zu fühlen, als diese Worte meinen Mund verlassen, lächele ich. Stellen Sie sich nur vor? Nach all den Jahren sage ich das zu meiner eigenen Mutter, und ich meine es auch so, und die Welt ist nicht unter mir zerbrochen.
»Ich mache dir keinen Vorwurf daraus, dass du gegangen bist«, sagt meine Mutter. »Ich weiß, dass du wieder zurückkommen wirst.«
»Und woher weißt du das?«, frage ich ein wenig verärgert darüber, dass sie mich so leicht durchschauen kann.
»Weil«, antwortet meine Mutter, »ich nur deshalb weitermache.«
Ich kralle mich in Roberts Sessel.
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