Und dennoch ist es Liebe
»Vielleicht verschwende ich hier ja nur meine Zeit«, sage ich. »Vielleicht sollte ich sofort wieder zurückkommen.«
Es wäre ja so einfach, an einen Ort zu gehen, wo ich willkommen bin, an irgendeinen Ort, nur um nicht hierbleiben zu müssen. Ich halte kurz inne und warte darauf, dass sie mein Angebot annimmt. Doch stattdessen lacht meine Mutter nur leise. »Weißt du, was dein erstes Wort war?«, fragt sie. »Noch vor Mama und Dada? Es war Tschüss. «
Sie hat recht. Es wird mir nichts nützen, einfach immer weiter zu rennen. Ich lasse mich in den großen Sessel zurücksinken, schließe die Augen und versuche, mir den Bach vorzustellen, über den ich mit Donegal gesprungen bin, und die Wolken am Himmel. »Sag mir, was ich versäume«, bitte ich meine Mutter. Und ich höre ihr zu, wie sie mir von Aurora und Jean-Claude erzählt, von der ausgeblichenen Farbe an den Stallwänden und vom Wechsel der Jahreszeiten, der immer häufiger verhindert, dass man abends noch auf der Veranda sitzen kann. Und nach einer Weile konzentriere ich mich gar nicht mehr auf ihre eigentlichen Worte, sondern genieße einfach den Klang ihrer Stimme.
Dann höre ich sie sagen: »Ich habe deinen Vater angerufen.«
Ich bin sicher, falsch gehört zu haben. »Du hast was? «, hake ich nach.
»Ich habe deinen Vater angerufen. Wir hatten ein gutes Gespräch. Ich hätte das nie von mir aus getan, aber du hast mich dazu ermutigt … indem du gegangen bist, meine ich.« Es folgt ein kurzes Schweigen. »Wer weiß«, murmelt sie, »vielleicht werde ich ihn eines Tages sogar wiedersehen.«
Ich schaue auf die wie mutiert aussehenden Tische und Stühle in der dunklen Bibliothek und reibe mir die Schultern. Allmählich bekomme ich Hoffnung. Vielleicht ist es genau das, was meine Mutter und ich nach zwanzig Jahren füreinander tun können. Unser Verhältnis ist nicht so wie das, das andere Mütter zu ihren Töchtern haben. Meine Mutter wird nie mehr mit mir über Jungs im siebten Schuljahr reden, mein Haar an einem verregneten Sonntag flechten oder meine Wunden mit einem Kuss heilen. Wir können nicht wieder zurückgehen, aber wir können einander weiter überraschen, und ich nehme an, das ist besser als nichts.
Plötzlich glaube ich wirklich, dass Nicholas mich schon verstehen wird, wenn ich nur lange genug durchhalte. Es ist nur eine Frage der Zeit, und ich habe viel zu tun. »Ich arbeite jetzt ehrenamtlich im Krankenhaus«, erzähle ich meiner Mutter stolz. »Ich arbeite, wo Nicholas arbeitet. Ich bin ihm näher als sein Schatten.«
Meine Mutter schweigt zunächst, als denke sie darüber nach. »Es sind schon seltsamere Dinge geschehen«, sagt sie schließlich.
*
Max wacht schreiend auf, er hat die Beinchen dicht an die Brust gezogen. Doch als ich ihm den Bauch reibe, schreit er nur noch lauter. Ich glaube, dass er vielleicht rülpsen muss, aber das scheint nicht das Problem zu sein. Schließlich lege ich ihn auf die Schulter, laufe mit ihm herum und drücke seinen Bauch an mich. »Was ist denn los?«, fragt Astrid und steckt den Kopf zur Tür herein.
»Ich weiß es nicht«, antworte ich, und zu meiner Überraschung gerate ich bei diesen Worten nicht in Panik. Irgendwie weiß ich, dass ich das schon herausfinden werde. »Er könnte Blähungen haben.«
Max hebt den Kopf und läuft knallrot an, so wie er es immer macht, wenn er in die Windel macht. »Aha«, sage ich. »Willst du mir ein Geschenk machen?« Ich warte, bis er so aussieht, als sei er fertig. Dann ziehe ich ihm den Strampler aus und wechsele ihm die Windel. Da ist jedoch nichts drin, gar nichts. »Du hast mich auf den Arm genommen«, sage ich, und er lächelt.
Ich ziehe ihm die Windel wieder an, setze ihn zu seinen Spielsachen auf den Boden und spiele ein wenig mit ihm. Von Zeit zu Zeit verzieht er wieder das Gesicht. Er scheint Verstopfung zu haben. »Vielleicht sollten wir dir zum Frühstück ein paar Pflaumen geben«, sage ich. »Danach müsstest du dich schon wieder besser fühlen.«
Ein paar Minuten lang spielt Max stumm mit mir, dann bemerke ich, dass er nicht wirklich aufmerksam ist. Er starrt ins Leere, und die Neugier, die seine blauen Augen sonst zum Leuchten bringt, ist verschwunden. Er schwankt leicht, als würde er gleich umkippen. Ich runzele die Stirn, kitzele ihn und warte darauf, dass er reagiert. Es dauert ein, zwei Sekunden länger als für gewöhnlich, doch schließlich kommt er wieder zu mir zurück.
Er ist nicht er selbst , denke ich, obwohl ich nicht sagen
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