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Und dennoch ist es Liebe

Und dennoch ist es Liebe

Titel: Und dennoch ist es Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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mich schlang. Ich habe nie verstanden, wie sie so plötzlich vor mir stehen konnte, denn ich hatte sie nicht an mir vorbeigehen sehen. Das Haar meiner Mutter fiel mir wie ein Vorhang vor die Augen und kitzelte mich in der Nase. Ihr Atem blies mir an die Wange, und schwarze Schatten umringten uns wie eine künstliche Nacht, doch die Stimme meiner Mutter wirkte fest, wie etwas, an dem ich mich festhalten konnte. »Ich dachte schon, ich würde dich nie finden«, sagte sie, und diese Worte begleiteten mich wie eine Litanei für den Rest meines Lebens.

K APITEL 6
    N ICHOLAS
    Nicholas hatte eine furchtbare Woche. Einer seiner Patienten war auf dem Operationstisch gestorben, als sie ihm die Gallenblase entfernt hatten. Er hatte einer sechsunddreißigjährigen Frau sagen müssen, dass der Tumor in ihrer Brust bösartig ist, und heute war der Dienstplan geändert worden. Er war wieder in der Herzchirurgie, was eine ganze Liste neuer Patienten und Therapien mit sich brachte. Seit fünf Uhr morgens war er nun schon im Krankenhaus, und wegen der Nachmittagskonferenzen hatte er kein Mittagessen gehabt. Er hatte noch immer keinen Bericht seiner Visite geschrieben, und als würde das alles noch nicht reichen, war er der diensthabende Arzt und würde das dank Doppelschichten auch noch sechsunddreißig Stunden lang sein.
    Er wurde mit einem seiner Assistenzärzte in die Notaufnahme gerufen – einem Harvard-Studenten im dritten Jahr mit Namen Gary, der noch grün hinter den Ohren war und Nicholas nicht im Mindesten an sich erinnerte. Gary hatte die Patientin gesäubert und rasch vorbereitet, eine vierzig Jahre alte Frau mit oberflächlichen Kopf- und Gesichtswunden, die jedoch stark bluteten. Sie war misshandelt worden, vermutlich von ihrem Mann. Nicholas ließ Gary weitermachen und beaufsichtigte ihn dabei. Als Gary die Gesichtswunden nähte, begann die Patientin zu schreien. »Fick dich!«, brüllte sie. »Fass mein Gesicht nicht an!« Garys Hände begannen zu zittern, und schließlich stieß Nicholas einen leisen Fluch aus und sagte Gary, er solle machen, dass er rauskomme. Dann erledigte er den Job selbst, während die Frau ihn unter den sterilen Decken verfluchte. »Du gottverdammtes Schwein! Du Arsch!«, kreischte sie. »Mach, dass du von mir wegkommst, du Wichser!«
    Nicholas fand Gary auf einem fleckigen Sofa in einem der Wartezimmer der Notaufnahme. Er hatte die Knie angezogen und war nach vorne gebeugt wie ein Fötus. Als er Nicholas auf sich zukommen sah, sprang er auf, und Nicholas seufzte. Gary hatte furchtbare Angst vor Nicholas. Er wollte nichts falsch machen, sondern einfach nur der Chirurg sein, von dem er immer geträumt hatte. »Tut mir leid«, murmelte er. »Ich hätte das nicht an mich rankommen lassen sollen.«
    »Ja«, sagte Nicholas in sachlichem Ton, »das hätten Sie nicht.« Er dachte darüber nach, Gary zu erzählen, was bei ihm selbst an diesem Tag schon alles schiefgelaufen war. Sehen Sie , hätte er dann gesagt, und nach alldem bin ich noch immer auf den Beinen und mache meinen Job. Doch schließlich sagte er gar nichts. Irgendwann würde Gary das schon selbst herausfinden, und Nicholas wollte einem Untergebenen gegenüber seine Fehler nicht eingestehen. Also drehte er sich um, ging weg und fühlte sich genau wie der arrogante Hurensohn, der er angeblich war.
    Seit Jahren schon maß Nicholas die Zeit nicht mehr mit normalen Mitteln. Monate und Tage hatten kaum noch Bedeutung für ihn, und Stunden waren eine Maßeinheit, die nur in Krankenblättern Verwendung fand. Nicholas maß sein Leben in Abschnitten, in Orten, wo er seine Tage verbrachte, und in medizinischen Fachgebieten, mit deren Details er seinen Verstand füllte. In Harvard hatte er zunächst die Semester nach Kursen aufgeteilt: Histologie, Neurophysiologie, Anatomie und Pathologie. Seine letzten beiden Jahre als Assistenzarzt mit ihren Rotationen wiederum waren zu einer Einheit verschmolzen. Manchmal erinnerte er sich an einen Patienten aus der Orthopädie in Brigham, stellte sich dazu aber die Gänge der Orthopädie im Massachusetts General vor. Während seiner Zeit als Assistenzarzt hatte er zunächst in der Inneren gearbeitet, dann einen Monat in der Psychiatrie, acht Wochen in der allgemeinen Chirurgie, einen Monat in der Radiologie, zwölf Wochen in der Gynäkologie, dann in der Pädiatrie und so weiter und so fort. Eine Zeit lang hatte Nicholas sogar die Jahreszeiten vergessen, während er sich von Fachgebiet zu Fachgebiet und von

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