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Und dennoch ist es Liebe

Und dennoch ist es Liebe

Titel: Und dennoch ist es Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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auf beiden Seiten des Kopfes ein Auge zu haben. Ich war mir nicht sicher, ob es mir gefallen würde, die Dinge nicht mehr direkt ansehen zu können.
    Ein Graben trennte uns von den Elefanten. Meine Mutter setzte sich auf den heißen Beton und zog sich die Highheels aus. Sie trug keine Strümpfe. Sie hob den Rock und watete in das knietiefe Wasser. »Das ist wunderbar«, seufzte sie. »Aber komm nicht rein, Paige. Ich sollte das wirklich nicht tun. Ich könnte dich in Schwierigkeiten bringen.« Sie bespritzte mich mit Wasser, und Gras und tote Fliegen klebten am weißen Spitzenkragen meines Kleides. Sie tänzelte und stolzierte, bis sie fast den Halt auf dem rutschigen Untergrund verlor. Und sie sang Melodien aus populären Broadwayshows, erfand die Texte aber selber, dumme Reime über Dickhäuter und das Wunder von Dumbo. Als ein Zoowärter langsam näher kam und nicht wusste, wie er mit einer erwachsenen Frau im Elefantengraben umgehen sollte, lachte meine Mutter und winkte ihm zu gehen. Mit der Eleganz eines Engels stieg sie aus dem Wasser und setzte sich wieder auf den Beton. Sie zog die Pumps an, und als sie aufstand, war ein dunkler, runder Fleck auf dem Boden zu sehen, dort wo sie gesessen hatte. Mit dem gleichen Ernst, mit dem sie mich sonst an die goldene Regel erinnerte, sagte sie, manchmal müsse man auch ein Risiko eingehen.
    Mehrmals an diesem Tag schaute ich meine Mutter mit einer seltsamen Gefühlsmischung an. Ich zweifelte keinen Moment daran, dass sie meinem Vater sagen würde, wir seien in der Kirche gewesen und alles sei genauso gelaufen wie immer, wenn er anrief. Ich liebte es, Teil einer Verschwörung zu sein. An einem Punkt fragte ich mich sogar, ob es sich bei der Freundin, die ich Nacht für Nacht sah, vielleicht um meine Mutter handelte. Wie angenehm und wunderbar das wäre.
    Wir setzten uns auf eine Bank neben eine Dame, die Ballons verkaufte. Meine Mutter hatte meine Gedanken gelesen. »Heute«, sagte sie, »stellen wir uns mal vor, ich bin nicht deine Mutter. Heute bin ich einfach nur May. Nur deine Freundin May.« Und natürlich widersprach ich ihr nicht, denn genau das hatte ich ja gehofft, und außerdem benahm sie sich auch nicht wie meine Mutter – zumindest nicht wie die, die ich kannte. Wir erzählten diese kleine Lüge dem Mann, der den Affenkäfig fegte. Er blickte nicht von seiner Arbeit auf, aber ein großer, zerzauster Gorilla näherte sich und starrte uns auf eine sehr menschliche Weise an, die zu sagen schien: Ja, ich glaube euch.
    Zum Schluss gingen wir im Lincoln Park Zoo in das Haus für die Pinguine und Seevögel. Dort war es dunkel, es roch nach Hering, und alles war nach außen hin abgeschlossen. Das Gebäude lag teilweise unter der Erde, um die Temperatur kühl zu halten. Die Besucher wurden durch einen gewundenen Gang geführt, und durch dicke Glasfenster hindurch konnte man die Pinguine beobachten. Sie sahen fantastisch aus in ihrer formellen Kleidung, und sie machten Stepptanz auf Eisschollen. »Dein Vater«, sagte May, »sah bei unserer Hochzeit nicht viel anders aus.« Sie beugte sich dicht ans Glas heran. »Und wirklich kann ich den einen Bräutigam nicht vom anderen unterscheiden. Sie sehen alle gleich aus, weißt du?« Und ich sagte, ja, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wovon sie sprach.
    Meine Mutter starrte einen Pinguin an, der bäuchlings ins Wasser geglitten war und dort nun elegante Rollen vollführte, während ich um die Ecke verschwand. Ich fühlte mich von der anderen Seite des Hauses angezogen, denn dort waren die Papageientaucher. Ich wusste zwar nicht, was ein Papageientaucher ist, aber mir gefiel der Name. Es hörte sich so schön bunt an. Der Gang war lang und schmal, und es dauerte eine Weile, bis meine Augen sich an das gedämpfte Licht gewöhnt hatten. Ich machte ganz kleine Schritte, weil ich nicht wusste, wo ich hinging, und ich hielt die Hände vor mich wie ein Blinder. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich Stunden unterwegs, aber ich konnte diese Papageientaucher nicht finden und auch nicht den silbernen Lichtstreifen unter der Tür, die nach draußen führte, oder den Ort, von dem ich losgegangen war. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich wusste, dass ich gleich schreien, weinen oder auf die Knie sinken und für immer unsichtbar werden würde. Doch aus irgendeinem Grund war ich nicht überrascht, als meine Finger in der Finsternis die tröstende Gestalt von May fanden, die sich daraufhin wieder in meine Mutter verwandelte und die Arme um

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