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Und dennoch ist es Liebe

Und dennoch ist es Liebe

Titel: Und dennoch ist es Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Bereitschaftsdienst hatte und alles ruhig war, spazierte Nicholas gerne durch die Gänge, wobei er die Hände tief in die Taschen seines weißen Arztkittels steckte. Er ging jedoch fast nie in die Krankenzimmer, noch nicht einmal, wenn er die Patienten kannte und sie mehr waren als nur Namen und Datenblätter an der Tür. Stattdessen zog er wie ein Schlafwandler durch die Flure und erfüllte die Nacht mit seinen eigenen gedämpften Schritten. Nicholas weckte Serena LeBeauf nicht, als er ihr Zimmer auf der AIDS-Station betrat. Es war schon weit nach zwei Uhr morgens, als er endlich ein paar Minuten Zeit für sie hatte. Er setzte sich auf den schwarzen Plastikstuhl neben dem Bett und staunte, wie sehr sich ihr Zustand schon verschlechtert hatte. Laut Datenblatt wog sie inzwischen weniger als siebzig Pfund, und sie litt unter einer Bauchspeicheldrüsenentzündung und Atemnot. Eine Sauerstoffmaske bedeckte ihr Gesicht, und aus einem Tropf wurde sie mit Morphium versorgt.
    Nicholas hatte etwas getan, was man nicht tun sollte, als er Serena zum ersten Mal getroffen hatte: Er hatte sich ihre Geschichte zu Herzen genommen. Normalerweise tat er das nicht. Wenn man wie er jeden Tag dem Tod ins Auge blickte, dann musste man hart sein. Doch Serena hatte ein breites Lächeln, schier unglaublich weiße Zähne und die Augen einer Tigerin. Sie war mit ihren drei Kindern ins Krankenhaus gekommen, drei Jungs, alle von unterschiedlichen Vätern. Der Jüngste, Joshua, war damals erst sechs Jahre alt gewesen, ein schmächtiges Kerlchen. Serena erzählte ihren Kindern nicht, dass sie AIDS hatte, sie wollte ihnen das Stigma ersparen. Nicholas erinnerte sich noch daran, wie er im Beratungszimmer gesessen und zugehört hatte, als der behandelnde Arzt ihr erklärt hatte, sie sei HIV-positiv. Serena hatte die Schultern gestrafft und sich so fest an die Stuhllehnen geklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Nun«, hatte sie mit einer Stimme so sanft wie die eines Kindes gesagt. »Damit hatte ich nicht gerechnet.« Sie weinte nicht, sondern löcherte den Arzt mit Fragen, und dann bat sie ihn fast schüchtern, ihren Jungs nichts davon zu erzählen. Stattdessen sagte sie ihren Kindern, den Nachbarn und entfernten Verwandten, sie sei an Leukämie erkrankt.
    Serena rührte sich, und Nicholas zog den Stuhl näher heran. Er griff nach ihrem Handgelenk und sagte sich, er wolle nur ihren Puls fühlen, doch er wusste, dass er ihr in Wahrheit die Hand halten wollte. Ihre Haut war trocken und heiß. Nicholas wartete darauf, dass sie die Augen öffnete oder etwas sagte, doch zu guter Letzt streichelte er ihr nur über die Wange und wünschte sich, er könne ihr den Schmerz nehmen.
*
    Im vierten Jahr seines Medizinstudiums begann Nicholas, an Wunder zu glauben. Er war erst wenige Monate verheiratet, als er beschloss, in Winslow, Arizona, ein Praktikum beim Indian Health Service zu machen. Es dauere nur vier Wochen, sagte er zu Paige. Er war es leid, in den Krankenhäusern von Boston die Drecksarbeit zu machen und bei der kleinsten Kleinigkeit nach einem approbierten Arzt rufen zu müssen. Dann hatte er von dem Praktikum im Reservat erfahren. Dort herrschte solch ein Personalmangel, dass jeder alles machen musste – alles!
    Winslow lag drei Stunden Fahrt von Phoenix entfernt. Eine richtige Stadt war das nicht. Überall standen Geschäfte und Wohnungen leer, und ihre leeren Fenster starrten Nicholas an wie die Augen eines Blinden. Während er darauf wartete, abgeholt zu werden, trieb eine Steppenhexe über die Straße, genau wie im Film.
    Feiner Staub bedeckte alles, und die Klinik war nicht mehr als ein schlichter Betonblock inmitten des Nirgendwo. Nicholas hatte einen Nachtflug genommen, und der Arzt, der ihn in Winslow empfing, war schon seit 18.00 Uhr am Abend zuvor im Dienst. Die Klinik war noch nicht geöffnet, jedenfalls nicht offiziell, aber mehrere Pick-ups warteten in der Kälte davor, und ihre Auspuffgase hingen wie der Atem eines Drachen in der Luft.
    Die Navajo waren ein stilles Volk, stoisch und zurückhaltend. Selbst im Dezember spielten die Kinder draußen. Nicholas erinnerte sich daran, dass die braunhäutigen Kleinkinder in kurzen Ärmeln Engel in den gefrorenen Sand gezeichnet hatten, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihnen etwas Wärmeres anzuziehen. Er erinnerte sich an den schweren Silberschmuck der Frauen: Stirnbänder, Gürtelschnallen und Broschen, die auf schweren türkisen Baumwollkleidern glitzerten. Und Nicholas

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