Und dennoch ist es Liebe
wusste sehr wohl, dass ich allein war, wenn ich allein war. Doch nachts träumte ich immer wieder das Gleiche: Ein anderes Mädchen rief nach mir, und gemeinsam formten wir Kuchen im Sandkasten und schaukelten, bis unsere Zehen die Sonne berührten. Und der Traum endete stets gleich: Irgendwann brachte ich den Mut auf, das Mädchen nach seinem Namen zu fragen, damit ich sie wiederfinden konnte, und kurz bevor sie antwortete, wachte ich auf.
Und so war es auch an diesem Sonntag. Enttäuscht öffnete ich die Augen und hörte meinen Vater den Koffer durch den Flur zerren. Meine Mutter verabschiedete sich flüsternd von ihm und erinnerte ihn daran, uns später, nach der Messe, anzurufen, um uns zu erzählen, wie es gelaufen war.
Der Morgen begann so wie immer. Meine Mutter machte mir Frühstück, mein Lieblingsgericht: Apfelpfannkuchen in Form meiner Initialen. Dann legte sie mein rosa Spitzenkleid aufs Bett. Doch als es an der Zeit war, zur Kirche zu gehen, traten meine Mutter und ich in einen dieser perfekten Apriltage hinaus. Die Sonne war so angenehm wie ein Kuss, und die Luft roch nach frisch gemähtem Gras. Meine Mutter lächelte, nahm meine Hand, und wir gingen die Straße hinunter und entfernten uns immer weiter von Saint Christopher. »An so einem schönen Tag«, sagte sie, »will Gott bestimmt nicht, dass wir drinnen verrotten.«
Da wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass meine Mutter noch ein zweites Leben führte, eines, das nichts mit meinem Vater zu tun hatte. Was ich immer für Spiritualität gehalten hatte, war in Wirklichkeit nur ein Nebeneffekt der Energie, die sie wie ein Magnetfeld umgab. Nun fand ich heraus, dass meine Mutter ein vollkommen anderer Mensch sein konnte, wenn sie sich nicht den Launen eines anderen beugen musste.
Wir gingen immer weiter und weiter und kamen dem See immer näher. Das roch ich in der Luft. Und während wir gingen, wurde es immer wärmer, ja, es wurde richtig heiß. Als wir die weißen Mauern des Lincoln Park Zoos erreichten, ließ Mom meine Hand los. Der Zoo rühmte sich damit, natürliche Gehege zu haben. Anstatt die Tiere einzusperren, hielten sie die Leute mit geschicktem Design draußen. Es gab nur wenige Zäune oder Betonbarrieren. Die Giraffen wurden nur durch ein Bodengitter zurückgehalten, über das sie nicht laufen konnten, und die Zebras lebten hinter einem Graben, den sie nicht überspringen konnten. Meine Mutter lächelte mich an. »Du wirst es lieben«, sagte sie, und ich fragte mich, ob sie öfter hierherkam, und wenn ja, wen nahm sie mit, wenn nicht mich.
Allein aufgrund des Wassers fühlten wir uns vom Eisbärengehege geradezu magisch angezogen. Drei Felsen waren in das kalte Blau der Arktis gemalt, und die Bären lagen ausgestreckt in der Sonne. Sicher war es ihnen in ihren Winterfellen viel zu warm. Gelegentlich schlugen sie mit den Pranken ins Wasser, das – so sagte meine Mutter – extra gekühlt wurde. Es waren zwei Weibchen und ein Junges. Ich fragte mich, wie sie wohl miteinander verwandt waren.
Meine Mutter wartete, bis das Junge die Hitze nicht mehr ertragen konnte; dann zog sie mich ein paar schattige Stufen zum Unterwasserfenster herunter. Das Junge schwamm genau auf uns zu und drückte die Schnauze ans Plexiglas. »Schau mal, Paige!«, sagte meine Mutter. »Es will dir einen Kuss geben!« Sie hielt mich hoch, sodass ich mir die traurigen braunen Augen genauer anschauen konnte. »Wärst du nicht gerne da drin?«, fragte meine Mutter, stellte mich wieder auf den Boden und tupfte mir die Stirn mit ihrem Rocksaum ab. Als ich nicht darauf antwortete, stieg sie wieder in die Hitze hinauf und redete vor sich hin. Ich folgte ihr. Was hätte ich auch sonst tun sollen? »Es gibt viele Orte«, hörte ich sie flüstern, »an denen ich gern sein würde.«
Dann hatte sie eine Idee. Am nächsten Wegweiser schleppte sie mich zu den Elefanten. Afrikanische und Indische Elefanten sind zwar zwei verschiedene Spezies, aber sie sind immerhin so eng verwandt, dass man sie im selben Gehege halten kann. Sie hatten breite, kahle Köpfe und Ohren wie Papier, und ihre Haut war faltig und weich wie die der alten schwarzen Frau, die in Saint Christopher saubermachte. Die Elefanten schüttelten die Köpfe und schlugen mit ihren Rüsseln nach den Mücken. Sie folgten einander vom einen Ende des Geheges zum anderen und blieben an den Bäumen stehen, um sie zu untersuchen, als hätten sie sie noch nie gesehen. Ich schaute sie mir an und fragte mich, wie es wohl wäre,
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