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Und dennoch ist es Liebe

Und dennoch ist es Liebe

Titel: Und dennoch ist es Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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erinnerte sich auch an die Dinge, die ihn schockiert hatten, als er dort angekommen war: der nicht aufzuhaltende Alkoholismus, das Kleinkind, das sich die Lippe kaputtgebissen hatte, nur um nicht zu weinen, als Nicholas eine schmerzhafte Hautentzündung untersucht hatte, und die dreizehnjährigen Mädchen in der Entbindungsstation, deren Bäuche so grotesk geschwollen waren, dass sie an eine Schlange erinnerten, die ein Ei verschluckt hatte.
    An seinem ersten Morgen in der Klinik wurde Nicholas direkt in die Notaufnahme gerufen. Ein unter schwerer Diabetes leidender Mann hatte einen Medizinmann konsultiert, der ihm als Teil der Behandlung heißen Teer auf die Beine gegossen hatte. Schreckliche Brandblasen waren die Folge gewesen, und nun versuchten zwei Ärzte, den Mann festzuhalten, während ein dritter den Schaden untersuchte. Da er unsicher war, was er tun sollte, hatte Nicholas sich zurückgehalten. Dann wurde eine Patientin hereingebracht, eine sechzigjährige Frau mit Herzproblemen, auch sie litt unter Diabetes und hatte einen Herzstillstand gehabt. Einer der festangestellten Ärzte hatte ihr einen Plastikschlauch in den Schlund gerammt, um ihr beim Atmen zu helfen. Er hob nicht den Blick, als er Nicholas anbrüllte: »Worauf zum Teufel wartest du denn da?« Und Nicholas trat zu der Patientin und begann mit der Wiederbelebung. Gemeinsam versuchten sie vierzig Minuten lang, das Herz wieder zum Schlagen zu bewegen, mit Beatmung, mit Defibrilation und mit Medikamenten, doch zum Schluss war die Frau gestorben.
    Während dieses einen Monats, den Nicholas in Winslow verbrachte, ließ man ihn selbstständiger arbeiten als in all den Jahren in Harvard zuvor. Er bekam seine eigenen Patienten. Er machte seine eigenen Notizen, entwarf seine eigenen Behandlungspläne und legte sie dann den acht festangestellten Ärzten zur Genehmigung vor. Er fuhr mit den Krankenschwestern in Allradfahrzeugen raus, um jene Navajos zu finden, die keine Adresse hatten. Sie lebten weit abseits in Hütten mit Türen, die stets nach Osten wiesen. »Ich wohne acht Meilen westlich von Black Rock«, schrieben sie auf ihre Anmeldeformulare, »einfach den Hügel hinunter an dem roten Baum vorbei, dessen Stamm vom Blitz gespalten ist.«
    Nachts schrieb Nicholas an Paige. Er erwähnte die schmutzigen Hände und Füße der Kleinkinder, die vollgestopften Hütten im Reservat und die glühenden Augen der Alten, die wussten, dass sie sterben würden. Häufig klangen diese Briefe wie eine Auflistung seiner Heldentaten, und wenn das der Fall war, dann verbrannte Nicholas sie. Und ständig tauchte diese eine Zeile vor seinem Geist auf: Gott sei Dank werde ich nicht diese Art von Arzt sein. Worte, die er nie zu Papier brachte, obwohl er wusste, dass sie der Wahrheit entsprachen.
    An seinem letzten Tag beim Indian Health Service wurde eine junge Frau hereingebracht, bei der die Wehen eingesetzt hatten. Es drohte, eine Steißgeburt zu werden. Nicholas hatte versucht, den Gebärmutterhals zu erweitern, doch es war klar, dass sie um einen Kaiserschnitt nicht herumkommen würden. Das sagte er auch zu der Navajo-Krankenschwester, die ihm als Dolmetscherin diente, und die Frau mit den Wehen schüttelte heftig den Kopf. Eine Schamanin wurde gerufen, und Nicholas trat respektvoll zurück. Die Medizinfrau legte die Hände auf den geschwollenen Bauch, sang Beschwörungsformeln in der Sprache ihres Volkes und massierte den verdrehten Unterleib. Nicholas erzählte die Geschichte, als er am nächsten Tag wieder nach Boston zurückkehrte. Er dachte noch immer an die dunklen, knochigen Hände der Medizinfrau, die über seiner Patientin schwebten, während vor dem Fenster der rote Staub vorbeitrieb. »Ihr könnt ruhig darüber lachen«, sagte er zu den anderen Assistenzärzten, »aber das Baby wurde mit dem Kopf voran geboren.«
*
    »Nicholas«, sagte Paige verschlafen. »Hi.«
    Nicholas wickelte die Metallschnur des Münzfernsprechers um sein Handgelenk. Er hätte Paige nicht wecken sollen, aber er hatte den ganzen Tag noch nicht mit ihr gesprochen. Manchmal rief er sie um drei oder vier Uhr in der Frühe an. Natürlich wusste er, dass sie dann schlief, und er stellte sie sich vor, wie sie mit ihrem zerzausten Haar und dem zerknitterten Nachthemd das Telefon in Händen hielt. Und es gefiel ihm, sich auch die Matratze vorzustellen und die Vertiefung an der Stelle, an der Paige wenige Augenblicke zuvor noch gelegen hatte. Er mochte die Vorstellung, dass er neben ihr schlafen

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