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Und dennoch ist es Liebe

Und dennoch ist es Liebe

Titel: Und dennoch ist es Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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an seinen Schläfen, das markante Kinn und den hüpfenden Adamsapfel. Dann wanderte sein Blick über das jadegrüne Polohemd seines Vaters, die Venen in der Ellbogenkrümmung und die Hände, die schon so viele Menschen geheilt hatten. Sein Vater trug keinen Ehering.
    »Dad«, sagte Nicholas, »du hast deinen Ring vergessen.«
    Robert Prescott wandte sich von seinem Sohn ab. »Ja«, sagte er, »das habe ich.«
    Als er seinen Vater diese Worte sagen hörte, spürte er, wie ein Gefühl der Übelkeit seine Kehle hinaufstieg. Sein Vater würde den Ring doch nicht absichtlich vergessen haben … oder?
    Wenige Minuten vor Beginn des Spiels setzten sie sich auf ihre breiten Holzsitze. »Lass mich auf der anderen Seite sitzen«, sagte Nicholas, da ein dicker Mann mit Afrofrisur ihm die Sicht versperrte. »Der Sitz gehört uns doch auch, oder?«
    »Der ist besetzt«, erwiderte Robert Prescott, und als hätten seine Worte sie heraufbeschworen, erschien plötzlich eine Frau.
    Sie war groß und hatte langes blondes Haar, das von einem roten Band zusammengehalten wurde. Sie trug ein leichtes Sommerkleid, durch das Nicholas ihren Brustansatz sehen konnte, als sie sich neben seinen Vater setzte. Sie beugte sich herüber, küsste Nicholas’ Vater auf die Wange, und er legte den Arm auf ihre Sitzlehne.
    Nicholas versuchte, sich auf das Spiel zu konzentrieren. Die Sox machten die Oakland As fix und fertig. Yaz, sein Lieblingsspieler, schlug einen Homerun, und Nicholas öffnete den Mund, um mit der Menge zu jubeln, doch es kam kein Ton heraus. Dann schlug ein Spieler von Oakland den Ball genau auf den Teil der Tribüne, wo Nicholas saß. Nicholas spürte, wie seine Finger im Handschuh zuckten, und er stand auf und balancierte auf dem Sitz, um den Ball im Flug zu fangen. Dabei drehte er sich um, streckte den Arm über den Kopf und sah, wie sein Vater sich dicht an die Frau heranbeugte und seine Lippen ihr Ohr berührten.
    Entsetzt blieb Nicholas auf seinem Sitz stehen, während der Rest der Menge sich wieder setzte. Er beobachtete, wie sein Vater jemanden liebkoste, der nicht seine Mutter war. Schließlich hob Robert Prescott den Kopf und bemerkte Nicholas’ Blick. »Grundgütiger«, sagte er und richtete sich auf. Er streckte nicht die Hand aus, um seinem Sohn vom Sitz zu helfen, und er hatte ihn der fremden Frau noch nicht einmal vorgestellt. Dann drehte sein Dad sich zu ihr um, und ohne ein Wort zu sagen, schien er ihr eine Million Dinge gleichzeitig mitzuteilen, was Nicholas noch schlimmer schien, als wenn sie miteinander gesprochen hätten.
    Bis zu diesem Augenblick hatte Nicholas seinen Vater für den wunderbarsten Mann der Welt gehalten. Er war berühmt und schon mehrere Male im Globe zitiert worden. Und man brachte ihm Respekt entgegen. Schickten seine Patienten ihm nach einer Operation nicht Dinge wie Süßigkeiten, Danksagungen und einmal sogar drei kleine Gänse? Nicholas’ Vater hatte immer eine Antwort auf alle Fragen gehabt, die sein Sohn ihm stellte: Warum ist der Himmel blau? Warum sprudelte Cola? Warum bekommen Krähen, die auf einer Stromleitung hocken, keinen Stromschlag? Und warum fallen Menschen am Südpol nicht einfach herunter? Solange er denken konnte, hatte Nicholas wie sein Vater sein wollen, doch nun ertappte er sich dabei, wie er um ein Wunder betete. Er wollte, dass irgendjemand von einem Ball getroffen und k. o. gehen würde, damit der Stadionsprecher über Lautsprecher fragen konnte: »Ist zufällig ein Arzt anwesend?« Dann würde sein Vater zur Rettung eilen. Nicholas wollte sehen, wie sein Vater sich über den reglosen Körper beugte, ihm den Kragen aufknöpfte und den Puls fühlte. Sein Vater sollte ein Held sein.
    Am Ende des siebten Innings verließen sie das Stadion, und Nicholas saß auf der Rückfahrt hinter seinem Vater. Als sie in die Einfahrt des großen, alten Hauses einbogen, sprang Nicholas aus dem Wagen und rannte in den Wald, der an ihr Grundstück grenzte. So schnell wie noch nie in seinem Leben kletterte er auf die nächstbeste Eiche. Er hörte seine Mutter fragen: »Wo ist Nicholas?« Ihre Stimme hallte zu ihm herüber wie Glocken im Wind. Dann sagte sie: »Du Bastard.«
    An jenem Abend kam sein Vater nicht zum Abendessen, und trotz der warmen Hände seiner Mutter und ihres Porzellanlächelns wollte Nicholas nichts essen. »Nicholas«, sagte seine Mutter, »du willst hier doch nicht weg, oder? Du willst doch hierbleiben, bei mir?« So wie sie das betonte, war es keine Frage, und das

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