Und dennoch ist es Liebe
starrte ihn verwirrt an. Dann erinnerte er sich daran, dass er an diesem Abend die erste Dinnerparty für seine Kollegen geben würde: Alistair Fogerty und die Chefärzte der Pädiatrie, der Kardiologie und der Urologie. »Um sieben«, sagte er. Wie spät war es jetzt? Und wie lange würde er brauchen, um umzuschalten? »Natürlich.«
*
Nicholas hatte wieder Albträume gehabt. Auch wenn es nicht die gleichen waren, die er damals auf der Uni gehabt hatte, so waren sie nicht weniger beunruhigend, und Nicholas glaubte, dass sie dieselbe Ursache hatten: seine alte Angst vor dem Versagen.
Nicholas wurde durch einen nassen Regenwald gejagt, von dessen Ranken Blut tropfte. Er spürte, dass seine Lunge kurz davor stand zu platzen, und das Laufen auf dem schwammigen Untergrund fiel ihm schwer. Er hatte keine Zeit zurückzublicken, konnte sich nur die Äste aus dem Gesicht wischen, die seine Stirn und seine Wangen aufrissen. Im Hintergrund heulte ein Schakal.
Der Traum begann stets damit, dass Nicholas rannte. Doch er wusste nicht, wovor er weglief. Aber manchmal, während er sich ganz darauf konzentrierte, zu rennen und den Bäumen auszuweichen, wurde ihm bewusst, dass er gar nicht mehr verfolgt wurde. Plötzlich rannte er nicht mehr vor etwas weg, sondern auf etwas zu, das jedoch genauso gesichtslos und schrecklich war wie sein Verfolger. Nicholas schnappte nach Luft. Er bekam Seitenstiche, und doch konnte er nicht schnell genug rennen. Heiße Schmetterlinge flatterten ihm in den Nacken, und Blätter streiften seine Schultern, als er versuchte, schneller zu laufen. Schließlich warf er sich vor einem Altar aus Sandstein, in den die Bilder alter Götter eingraviert waren, auf die Knie. Und unter seinen Händen verwandelte sich der Altar in einen Mann, in einen Menschen mit warmer Haut und verdrehten Knochen. Nicholas hob den Blick und sah sein eigenes Gesicht, nur älter, gebrochen und blind.
Nicholas wachte stets schreiend auf und immer in Paiges Armen. Vergangene Nacht, als er wieder voll zu Bewusstsein gekommen war, hatte sie mit einem feuchten Tuch über ihm geschwebt und ihm den Schweiß von Nacken und Brust getupft. »Schschsch«, hatte sie gesagt. »Ich bin’s.«
Nicholas stieß ein ersticktes Geräusch aus und zog Paige zu sich heran. »War es wieder das Gleiche?« Sie murmelte die Worte gedämpft an seiner Schulter.
Nicholas nickte. »Ich konnte es nicht sehen«, sagte er. »Ich weiß nicht, wovor ich weggelaufen bin.«
Paige strich mit ihren kalten Fingern über seinen Arm. Es waren diese Augenblicke, in denen seine Verteidigung versagte, in denen er sich an sie klammerte und sie als einzige Konstante in seinem Leben betrachtete. In diesen Augenblicken gab er sich ihr vollkommen hin. Manchmal, wenn er nach den Albträumen nach ihr griff, packte er so fest zu, dass sie blaue Flecken bekam. Aber er erzählte ihr nie das Ende des Traums. Er konnte nicht. Jedes Mal, wenn er es versuchte, begann er so heftig zu zittern, dass es ihm die Sprache verschlug.
Paige schlang die Arme um ihn, und er lehnte sich an ihren warmen Leib. »Sag mir, was ich für dich tun kann«, flüsterte sie.
»Halt mich fest«, sagte Nicholas, und er wusste, dass sie das tun würde. Mit der Gewissheit eines Kindes, das noch an den Weihnachtsmann glaubt, wusste er, dass sie ihn niemals loslassen würde.
*
Paige hatte niemandem sagen wollen, dass sie schwanger war. Auch wenn er wusste, dass es nicht stimmte, bekam Nicholas den Eindruck, dass sie versuchte, dem Unvermeidlichen zu entkommen. Sie kaufte sich keine Umstandskleider. Sie hätten nicht das Geld dafür, sagte sie. Und trotz Nicholas’ Drängen erzählte sie auch ihrem Vater nichts davon, als sie ihn anrief. »Nicholas«, hatte sie zu ihm gesagt, »jede dritte Schwangerschaft endet mit einer Fehlgeburt. Lass uns doch einfach abwarten.«
»Das gilt nur für die ersten drei Monate«, hatte Nicholas erwidert. »Du bist aber schon weit im fünften.«
Und Paige hatte sich zu ihm umgedreht. »Das weiß ich«, sagte sie. »Ich bin nicht dumm .«
»Ich habe doch auch gar nicht gesagt, dass du dumm bist«, erwiderte Nicholas in sanftem Ton. »Ich habe gesagt, dass du schwanger bist.«
An diesem Abend fuhr er rasch nach Hause und hoffte, dass Paige die Dinnerparty nicht auch vergessen hatte. Aber sie musste einfach daran gedacht haben, schließlich hatten sie sich heftig deswegen gestritten. Paige hatte darauf gesagt, das Haus sei zu klein für so eine Party, außerdem könne sie nichts
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