Und dennoch ist es Liebe
Erde durch ihre Finger rieseln. »Paige«, sagte sie dann, »atme einmal tief ein. Was riechst du?«
Ich schaute mich um und sah Fliederbüsche und Forsythien, aber ich atmete nicht tief ein. Auf Friedhöfen achtete ich ganz genau auf meine Atmung, so als könne mir dort ganz unerwartet alle Luft aus den Lungen geraubt werden.
Einmal saßen meine Mutter und ich im roten Schatten eines japanischen Ahornbaums, nachdem wir das Grab von Mary T. French besucht hatten, einer ehemaligen Bibliothekarin. Wir aßen Hähnchen und Kartoffelsalat und wischten uns dann die Finger an den Röcken ab. Anschließend streckte meine Mutter sich auf einem alten, grasbewachsenen Grab aus und legte den Kopf auf die Grabplatte. Sie klopfte sich auf die Schenkel und forderte mich auf, mich auch zu setzen.
»Du wirst ihn noch plattdrücken«, sagte ich todernst, und meine Mutter rückte gehorsam zur Seite. Ich setzte mich neben sie, legte den Kopf auf ihren Schoß und ließ mir die Sonne auf mein lächelndes Gesicht scheinen. Der Rock meiner Mutter flatterte im Wind und wehte mir immer wieder in den Nacken. »Mommy«, sagte ich, »wo geht man hin, wenn man tot ist?«
Meine Mutter atmete tief durch. »Ich weiß es nicht, Paige«, antwortete sie. »Was glaubst du denn?«
Ich strich über das kühle Gras rechts von mir. »Vielleicht sind sie ja alle unter der Erde und schauen zu uns herauf.«
»Vielleicht sind sie aber auch im Himmel und blicken auf uns hinunter«, erwiderte meine Mutter.
Ich öffnete die Augen und starrte in die Sonne, bis ich nur noch bunte Flecken sah. »Wie ist es so im Himmel?«, fragte ich.
Meine Mutter hatte sich auf die Seite gedreht, sodass ich von ihrem Schoß herunterrutschte. »Nachdem man das Leben hat ertragen müssen«, antwortete sie, »hoffe ich, dass es dort genauso ist, wie man es sich wünscht.«
Als ich nun über den Friedhof in Cambridge ging, kam mir plötzlich der Gedanke, dass meine Mutter vielleicht auch im Himmel war – falls es einen Himmel gab und falls sie gestorben war. Und wenn ja, war sie dann in einem Staat begraben, wo es nie schneite, oder lag sie womöglich in einem vollkommen anderen Land? Und wer legte ihr Lilien aufs Grab, und wer hatte die Grabinschrift in Auftrag gegeben? Ob in ihrem Nachruf wohl stand, dass sie Paige O’Toole eine liebende Mutter gewesen war?
Ich habe meinen Vater immer wieder gefragt, warum meine Mutter uns verlassen hat, und er hat mir immer wieder und wieder die gleiche Antwort gegeben: »Weil sie es so gewollt hat.« Im Laufe der Zeit sagte er das mit immer weniger Bitterkeit, aber glaubhafter wurde es dadurch nicht. Die Mutter, deren Bild ich mir im Laufe der Jahre zusammengebastelt hatte, die Mutter mit dem schüchternen Lächeln und den weiten Röcken, die Wunden mit einem Kuss heilen konnte und mir abends Geschichten von Scheherazade erzählte, diese Mutter hätte uns nicht verlassen. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass irgendeine höhere Macht uns Mom genommen hatte. Vielleicht war sie ja in irgendeine internationale Verschwörung verstrickt und hatte ihre Identität aufgeben müssen, um ihre Familie zu schützen. Eine Zeit lang hatte ich mir überlegt, ob sie vielleicht die eine Hälfte eines vom Schicksal vorbestimmten Liebespaars gewesen war, und ich hätte ihr sogar vergeben, dass sie von meinem Vater weggelaufen war, um mit ihrer wahren Liebe zu leben. Vielleicht war sie aber auch einfach nur rastlos gewesen. Oder vielleicht suchte sie nach jemandem, den sie verloren hatte.
Ich strich mit der Hand über die glatten Grabsteine und versuchte, mir das Gesicht meiner Mutter vorzustellen. Schließlich kam ich an eine Grabplatte, die in die Erde eingelassen war, und ich legte den Kopf darauf, verschränkte die Hände über dem Leben in meinem Bauch und starrte in den eisigen Himmel hinauf. Ich lag auf dem gefrorenen Boden, bis der Regen und die Kälte in meine Knochen eindrangen – und all diese Geister.
*
Mehr als alles andere auf der Welt hasste es meine Mutter, den Kühlschrank aufzumachen und einen leeren Limonadenkrug vorzufinden. Denn ich war damals noch zu klein, um mir selbst ein Glas Limonade einzugießen. Und immer war mein Vater schuld daran, dass der Krug alle war. Es war nicht so, als hätte mein Vater das mit Absicht gemacht. Er war einfach meist in Gedanken woanders, und da es nun mal nicht allzu hoch auf seiner Prioritätenliste stand, den Krug zu füllen, kümmerte er sich auch nicht darum. Mindestens dreimal pro Woche sah ich
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