Und dennoch ist es Liebe
schaffte es aber nicht. Stattdessen kam er näher und legte seine kühle Hand auf meinen Nacken, so wie Jesus es immer auf den Bildern tat, auf denen er Blinde und Kranke heilt. Und so blieb mein Vater stehen, als könne er uns auf diese Weise den Schmerz nehmen.
*
Als ich klein war, wollte mein Vater, dass ich ihn ›Da‹ nenne wie die Mädchen in Irland. Aber ich war als Amerikanerin aufgewachsen, und so nannte ich ihn ›Daddy‹ und später ›Dad‹. Ich fragte mich, wie mein Kind wohl Nicholas und mich nennen würde, als ich meinen Vater anrief – von demselben unterirdischen Münzfernsprecher, von dem aus ich ihn auch nach meiner Ankunft in Cambridge angerufen hatte. Der Busbahnhof war kalt und menschenleer. »Da«, sagte ich ganz bewusst, »ich vermisse dich.«
Der Tonfall meines Vaters veränderte sich sofort, als er hörte, dass ich am Apparat war. »Paige, Liebes«, sagte er. »Zweimal in einer Woche! Dafür muss es doch einen Grund geben.«
Warum fiel es mir so schwer, es ihm zu sagen? Warum hatte ich es nicht schon längst getan? »Ich bekomme ein Baby«, sagte ich.
»Ein Baby?« Das Grinsen meines Vaters füllte die Lücken zwischen seinen Worten. »Ein Enkel. Also das nenne ich wirklich einen Grund.«
»Im Mai ist es so weit«, sagte ich, »um Muttertag.«
Ich konnte förmlich hören, wie das Herz meines Vaters einen Schlag lang aussetzte. »Das passt«, sagte er und ließ ein tiefes Lachen hören. »Ich nehme an, du weißt das schon länger«, sagte er, »und wenn nicht, dann habe ich wohl einen ziemlich miesen Job gemacht, als ich dir das mit den Bienen und den Blumen erklärt habe.«
»Ja, ich weiß es schon länger«, gab ich zu. »Ich habe nur gedacht … Ich weiß nicht … Ich habe nur gedacht, ich hätte mehr Zeit.« Mich überkam das verrückte Verlangen, ihm alles zu erzählen, was ich all die Jahre verschwiegen hatte: die Umstände, von denen ich annahm, dass er sie ohnehin kannte. Die Worte steckten mir im Hals, sie warteten nur darauf, ausgesprochen zu werden: Erinnerst du dich noch an den Abend, als ich dein Haus verlassen habe? Ich schluckte und zwang meine Gedanken in die Gegenwart zurück. »Ich nehme an, ich habe mich selbst noch nicht so ganz an die Vorstellung gewöhnt«, sagte ich. »Nicholas und ich haben nicht damit gerechnet, und, nun ja … Er freut sich, aber ich … Ich brauche einfach noch ein wenig Zeit.«
Hunderte von Meilen entfernt atmete mein Vater tief durch, als würde er sich plötzlich an all das erinnern, was zu sagen ich nicht den Mut hatte. »Brauchen wir das nicht alle?«, erwiderte er.
*
Als ich schließlich das Viertel wieder erreichte, in dem Nicholas und ich lebten, war die Sonne bereits untergegangen. Leise wie eine Katze schlich ich durch die Straßen. Ich schaute in die erleuchteten Fenster von Stadthäusern und versuchte einen Blick auf die Wärme und den Duft des Abendessens zu erhaschen, die sie versprachen.
Dann schätzte ich wieder einmal meinen Umfang falsch ein und stolperte gegen einen Briefkasten, der aufklappte wie ein schwarzer Mund. Ganz oben auf dem Poststapel darin lag ein rosa Umschlag ohne Absender. Der Brief war an einen Alexander LaRue, 20 Appleton Lane, Cambridge adressiert. Die Handschrift war geschwungen und sanft, irgendwie europäisch. Ohne groß darüber nachzudenken, schaute ich, ob sich jemand auf der Straße näherte, dann steckte ich den Brief in meinen Mantel.
Ich hatte eine Straftat begangen. Ich kannte Alexander LaRue nicht, und ich beabsichtigte auch nicht, ihm den Brief zurückzugeben. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich so schnell wie möglich den Block hinunterging. Mein Gesicht war gerötet. Was hatte ich mir nur dabei gedacht?
Ich flog die Stufen zur Veranda hinauf, warf die Tür hinter mir zu und schloss beide Schlösser ab. Dann schüttelte ich den Mantel ab und zog mir die Stiefel aus. Mein Herz schlug immer schneller. Mit zitternden Fingern riss ich den Umschlag auf. Der Brief war mit der gleichen geschwungenen Handschrift mit diesen gelegentlichen Spitzen geschrieben – auf der abgerissenen Ecke einer Papiertüte. Lieber Alexander , las ich, ich habe von dir geträumt. Trish. Das war alles. Ich las den Zettel immer wieder und wieder und drehte ihn mehrmals in der Hand, um sicherzugehen, dass ich nichts übersehen hatte. Wer war Alexander? Und wer war Trish? Ich lief ins Schlafzimmer hinauf und stopfte den Brief in eine Schachtel Maxipads unten im Schrank. Ich stellte mir vor, welche Art von
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