Und dennoch ist es Liebe
schwarzen Frau mit drei Kindern, und wie jeder es im Moment tat, legte auch sie mir die Hand auf den Bauch. Eine schwangere Frau schien öffentliches Eigentum zu sein. »War Ihnen morgens übel?«, fragte die Frau. »Dann wird es ein Junge.« Sie zog ihre Kinder in den Regen hinaus, und gemeinsam stapften sie durch die Pfützen auf der Massachusetts Avenue.
Ich band mir meinen Schal um den Kopf und trat ebenfalls wieder in den Regen hinaus, dann ging ich die Brattle Street hinunter und blieb neben einer Kirche an einem kleinen, eingezäunten Spielplatz stehen. Der Spielplatz war nass und leer, die eine Seite war noch immer vom Schnee der letzten Woche bedeckt. Ich wandte mich wieder ab und ging weiter, bis die Geschäfte und Backsteinbauten Holzhäusern mit kahlen Bäumen davor wichen. Immer weiter und weiter schlurfte ich die Straße hinunter, als mir bewusst wurde, dass ich zum Friedhof ging.
Der Friedhof war berühmt. Soldaten aus dem Unabhängigkeitskrieg waren hier beerdigt, und es gab viele prachtvolle Grabsteine. Mein Lieblingsgrabstein war eine dünne, alte Schieferplatte. Sie markierte das Grab einer gewissen Sarah Edwards, die von der Kugel eines Mannes getötet worden war, der nicht ihr Ehemann gewesen war. Die Gräber waren unterschiedlich groß, lagen dicht beieinander, und mit ihren vielgestaltigen Grabsteinen sahen sie wie schiefe Zähne aus. Ein paar der Grabsteine waren umgekippt und von Pflanzen überwuchert. Hier und da waren Fußspuren im gefrorenen Boden zu sehen, und ich fragte mich, wer außer mir an einen Ort wie diesen kam.
Als Kind war ich mit meiner Mutter auf Friedhöfe gegangen. »Das ist der einzige Ort, an dem ich denken kann«, hatte sie mir einmal gesagt. Manchmal ging sie dorthin, um sich auf eine Bank zu setzen. Dann wieder erwies sie Fremden an ihren Gräbern Respekt. Und oft gingen wir gemeinsam, hockten uns auf die glatten, heißen Steine, die von unzähligen betenden Händen abgenutzt waren, und breiteten ein Picknick zwischen uns aus.
Meine Mutter schrieb Nachrufe für die Chicago Tribune . Meistens saß sie am Telefon und machte sich Notizen für die billigsten Todesanzeigen, die in winziger schwarzer Schrift gedruckt wurden. Sie enthielten kaum mehr Informationen als den Namen, Geburts- und Sterbedatum sowie die Namen der nächsten Verwandten und dann und wann auch eine Einladung zur Totenmesse mit Orts- und Zeitangabe.
Meine Mutter nahm jeden Tag Dutzende dieser Anrufe entgegen, und sie erzählte mir ständig, dass sie die Zahl der Todesfälle in Chicago immer wieder überraschte. Wenn sie nach Hause kam, ratterte sie häufig die Namen der Verstorbenen herunter, die sie sich genauso gut merken konnte wie andere Leute Telefonnummern. Sie ging jedoch nie auf den Friedhof, um diese Leute zu besuchen – jedenfalls nicht bewusst.
Doch dann und wann ließ der Chefredakteur sie auch einen der wirklichen Nachrufe schreiben, jene für Leute, die eine gewisse Berühmtheit erlangt hatten. Diese Nachrufe waren wie echte Artikel aufgemacht. HERBERT R. QUASHNER stand dann zum Beispiel in der Überschrift, LEITER IM FORSCHUNGSLABOR DER ARMY IST VERSTORBEN. Meine Mutter liebte diese Art von Nachrufen ganz besonders. »Da kann man eine richtige Geschichte erzählen«, sagte sie immer. »Dieser Kerl hat beispielsweise im 2. Weltkrieg auf einem Zerstörer gedient und war Mitglied einer Freimaurerloge hier in Chicago.«
Meine Mutter schrieb die Nachrufe daheim am Küchentisch. Dabei beschwerte sie sich immer über die Deadlines und fand dieses Wort angesichts ihres Berufes ziemlich lustig. »Als hätten diese Leute es noch eilig«, sagte sie und grinste. Waren die Nachrufe gedruckt, schnitt meine Mutter sie aus und klebte sie sorgfältig in ein Fotoalbum. Ich habe mich immer gefragt, was geschehen würde, wenn ausgerechnet dieses Album nach einem Feuer geborgen werden würde, in dem wir alle den Tod gefunden hatten. Würde die Polizei meine Mutter dann vielleicht für eine verrückte Serienmörderin halten? Doch meine Mutter fand es wichtig, eine Chronik ihrer Arbeit zu führen. Als sie verschwand, ließ sie das Album zurück.
Meine Mutter machte sich wöchentlich eine Liste mit den Namen der Menschen, über die sie schrieb. Und samstags, an ihrem freien Tag, gingen wir auf die Friedhöfe und suchten nach frischen Gräbern. Dann kniete meine Mutter sich vor die Gräber dieser Leute, die sie nicht kannte und die auch noch keinen Grabstein hatten, und sie ließ die frisch aufgewühlte
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