Und dennoch
zum Beispiel über den Föderalismus und eine Zweite Kammer, den Bundesrat, oder über das Eltern- und das Wahlrecht. Der Liberale Theodor Heuss und der Sozialdemokrat Carlo Schmid, der auch Vorsitzender des Hauptausschusses im Parlamentarischen Rat war, erwiesen sich als die eigentlichen Architekten des Grundgesetzes. Und es wurde ein gutes Grundgesetz, denn es gewährt und garantiert Menschenrechte!
Am 23. Mai 1949 fand die dritte und abschließende Lesung statt, eigentlich ein Gedenktag, der seinerzeit aber fast geschäftsmäßig ablief. Liest man die Protokolle von damals, waren es eigentlich nur zwei Redner, die dem Ergebnis vorbehaltlos und ohne Wenn und Aber zustimmten. Der eine war der damals dreiundsiebzigjährige Konrad Adenauer, der als Präsident des Parlamentarischen Rats fungierte und zu Protokoll gab, dass dieser 23. Mai 1949 für ihn »der erste frohe Tag seit 1933« sei. Der andere war der fünfundsechzigjährige Heuss, der das Grundgesetz nachdrücklich als »ein ganz kleines Stück festen Bodens für das deutsche Schicksal« begrüßte. Das neue Gemeinwesen selbst erhielt den Namen »Bundesrepublik Deutschland«.
Gab es nun Jubel in Westdeutschland oder zumindest Erleichterung? Ich kann mich an nichts dergleichen erinnern. Von den historischen Ereignissen in Bonn haben wohl die wenigsten Westdeutschen etwas mitbekommen. Begeistert war man nur, dass es endlich genug zu essen gab und bald auch wirtschaftlich aufwärts ging. Das große und auch dauerhafte Verfassungswerk war praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit entstanden. Mangelnde Berichterstattung war sicher ein Grund dafür, gab es doch damals nur wenige Zeitungen, von einer »Medienlandschaft« ganz zu schweigen. Es sollte Jahre, bei manchen Jahrzehnte dauern, bis sich die Menschen als Bundesbürger mit »ihrem« Grundgesetz identifizierten. Das Demokratie-Buchstabieren-Lernen brauchte eben viel Zeit.
Am 14. August 1949 fanden die ersten Bundestagswahlen statt. Damals existierte noch keine Fünf-Prozent-Sperrklausel, und so kamen zehn Parteien in den ersten Bundestag, der sich am 10. September 1949 konstituierte und zwei Tage später den ersten Bundespräsidenten wählte: den FDP-Vorsitzenden Theodor Heuss. Seine Kandidatur war in Teilen der CDU wegen seiner angeblich »mangelnden Frömmigkeit« umstritten. Adenauer aber brauchte die Liberalen zur Regierungsbildung und beschied die Zweifler: »Aber seine Frau ist sehr fromm.«
Theodor Heuss – der Abraham Lincoln unserer Demokratie
Direkt nach seiner Wahl am 12. September hielt Heuss zwei bedeutende Reden, eine vor dem Bundestag und die andere auf dem Bonner Marktplatz. Beide gehören zumindest in Ausschnitten in deutsche Geschichtsbücher, weil Heuss darin sehr wichtige, jedoch zu jener Zeit noch nicht allgemeingültige Überzeugungen für ein künftiges Demokratieverständnis formulierte:
Es ist – davon ist neuerlich nicht viel zu sagen – das geschichtliche Leid der Deutschen, dass die Demokratie von ihnen nicht erkämpft wurde, sondern als letzte, als einzige Möglichkeit der Legitimierung eines Gesamtlebens kam, wenn der Staat in Katastrophen zusammengebrochen war. Dies ist die Last, in der der Beginn nach 1918, in der der Beginn heute vor uns steht, das Fertigwerden mit den Vergangenheiten …
Es ist eine Gnade des Schicksals beim Einzelmenschen, dass er vergessen kann. Wie könnten wir als Einzelne leben, wenn all das, was uns an Leid, Enttäuschungen und Trauer im Leben begegnet ist, uns immer gegenwärtig sein würde! Und auch für die Völker ist es eine Gnade, vergessen zu können. Aber meine Sorge ist, dass manche Leute in Deutschland mit dieser Gnade Missbrauch treiben und zu rasch vergessen wollen. Wir müssen das im Spürgefühl behalten, was uns dorthin geführt hat, wo wir heute sind. Das soll kein Wort der Rachegefühle, des Hasses sein. Ich hoffe, dass wir dazu kommen werden, nun aus dieser Verwirrung der Seelen im Volk eine Einheit zu schaffen. Aber wir dürfen es uns nicht so leicht machen, nun das vergessen zu haben, was die Hitler-Zeit uns gebracht hat.
Nachmittags, am selben Tag, rief Heuss dann auf dem Bonner Marktplatz den freundlich applaudierenden Bürgern zu:
Wenn unsere Verfassung nicht im Bewusstsein und in der Freude des Volkes lebendig ist, dann bleibt sie eine Machtgeschichte von Parteienkämpfen, die wohl notwendig sind, aber nicht ihren inneren Sinn der Verfassung erfüllen.
Erst Jahre später konnte ich ermessen, was er damit meinte:
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