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Und dennoch

Und dennoch

Titel: Und dennoch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hildegard Hamm-Bruecher
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Es ging ihm um ein Verfassungsverständnis, das über Parteien, Wahlen und Machtkämpfe hinaus das Fundament unser aller Verbundenheit sein müsste. Heute lese ich dieses Zitat mit leicht nostalgischen Gefühlen, wie die Botschaft aus einer heilen politischen Welt, die es, anders als in Ländern mit selbst erkämpften Demokratien, hierzulande nie gegeben hat und wohl auch nie geben wird. Aber als Postulat und Vorsatz sollte es gültig sein und bleiben.

    Heuss wurde während seiner zehnjährigen Präsidentschaft durch sein heute weitgehend vergessenes Wirken zum eigentlichen geistigen Gründungsvater unserer Republik. Er war so etwas wie der Abraham Lincoln der deutschen Demokratie. Da er aber als Präsident keine exekutiven Zuständigkeiten hatte, konnte er sich in den Lauf der praktischen Politik nicht einmischen. Diese lief zumeist konträr zu seinen Vorstellungen vor allem vom Umgang mit den Erblasten der NS-Zeit. Sie wurden in Regierung und Bevölkerung so gut wie nicht aufgegriffen und nachvollzogen.
    Das gilt auch und vor allem für seine Aufforderung, unsere Verfassung »im Bewusstsein und in der Freude des Volkes« lebendig zu halten. Das wäre von Anbeginn so etwas wie ein stilbildender Auftrag gewesen, aber das Wirtschaftswunder war wichtiger. Und auch heute wieder, angesichts der besorgniserregenden Entfremdung zwischen Politikern und Bürgern, zwischen Volk und Volksvertretung, wäre genau das mehr denn je eine große und dringende Aufgabe aller Parteien und Parlamente. Freude über unsere Verfassung und Stolz auf sie, das ist es, was zu jenem Verfassungspatriotismus anstiften könnte, den unsere desillusionierte Demokratie heute so dringend brauchen würde.
    Notwendigkeit einer Bürgergesellschaft
    Nachdem das Grundgesetz 1949 in Kraft getreten war und unsere Demokratie als Staatsform ihren Anfang genommen hatte, änderte sich bezüglich unserer Lebensform zunächst herzlich wenig. Zwar besserten sich unsere materiellen Verhältnisse zusehends, auch machte sich der eine oder andere Fortschritt beim Wiederaufbau bemerkbar, unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben hatten jedoch noch alle Charakteristika eines von der NS-Diktatur geprägten obrigkeitsstaatlichen Gemeinwesens. Auch verstanden wir uns nach wie vor als Untertanen – und wurden entsprechend als solche behandelt. Erst nach und nach wurde uns bewusst, dass eine freiheitliche Staatsordnung auch ein neues
Verständnis für freiheitliche Lebens- und Verantwortungsformen des Einzelnen erforderte. Und mit dem Entwickeln ging es auch ums Erproben. Behörden und Ämter zum Beispiel mussten etwas anderes werden als Zwingburgen traditioneller Obrigkeit. Ihre Bediensteten kannten in Briefen genauso wenig eine persönliche Anrede wie eine höfliche Schlussformel, geschweige denn verstanden sie sich als »Freund und Helfer« des Bürgers.
    Der Mut, eine eigene politische Meinung offen zu vertreten, trat nur selten zutage. Man war ja noch auf eine verordnete Einheitsmeinung getrimmt. Vor allem auf dem Land traute man sich nicht, in Wahlversammlungen politisch Andersdenkender zu gehen, es sei denn, um zu stören, wenn man ohnehin gerade in einem Lokal war und feucht-fröhlich randalierte. Frauen besuchten sowieso keine politischen Versammlungen und waren es gewohnt, wie ihre Männer zu wählen.
    Einmal warf mir im oberpfälzischen Amberg eine Frau, die ich im Wahlkampf freundlich angesprochen hatte, meine Informationszettel ins Gesicht und spuckte mich an: »Pfui Deifi, wie kann eine Frau was anders wählen wie ihr Mo!« Kurz und nicht gut: Seinerzeit hatte Demokratie als pluralistische Lebensform (nicht nur in Bayern) Seltenheitswert. Das forderte mich heraus: Ich wollte den fairen Umgang miteinander, und dies auch bei unterschiedlichen Meinungen. Lebensgestaltung zu praktizieren war mir wichtiger, als im Landtag herumzusitzen und so gut wie keine Redezeit zu erhalten. Um die freiheitliche Praxis ging es mir, und die benötigten wir dringend für das Aufwachsen einer lebensfähigen Demokratie. Und es fehlten uns all die Werte, die uns die Nazis so gründlich ausgetrieben hatten: Fairness, Toleranz, Zivilcourage, Anerkennung anderer Ansichten, anderer Herkünfte, Religionen und Hautfarben. Auch brauchten wir Spielregeln für ein nicht mehr obrigkeitsstaatlich reglementiertes Zusammenleben. Für all das genügten nicht nur gelegentlich Worte zum Sonntag, gebraucht wurden »lebensgestaltende Werte« für den Alltag. Gebraucht wurde eine zweite Dimension der

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