Und dennoch
würde sie gern in »Woche der Geschwisterlichkeit« umbenennen – als ein wichtiges Bemühen um einen Neuanfang im deutsch-jüdischen Zusammenleben.
In den siebziger Jahren erlebten wir in allen Bereichen der bis dahin unzulänglichen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit einen vielfältigen Aufschwung. Vor allem die Wissenschaft brachte, zunächst vor allem dank der Pionierleistungen der im Münchner Institut für Zeitgeschichte forschenden Historiker, eine reiche Ernte an neuen Erkenntnissen und Informationen.
Bis heute! Außerdem gab es mehr und mehr Veröffentlichungen über die jahrzehntelang verdrängte Geschichte und die individuellen Geschichten der dreißiger und vierziger Jahre. Stellvertretend nenne ich Victor Klemperers Tagebücher 1933 – 1945 , in denen authentisch, weil aus dem alltäglichen Erleben über Drangsale und Ängste, über Entwürdigungen und Schikanen gegen die Juden, die bis zu ihrer Deportation in Deutschland geblieben waren, Aufzeichnungen gemacht wurden. Unvergesslich ist mir eine viertägige Rund-um-die-Uhr-Lesung der Tagebücher , die in den Münchner Kammerspielen vor einem gebannt zuhörenden Publikum stattfand. Die Schriften Dietrich Bonhoeffers zählen ebenfalls zur authentischen Widerstandsliteratur, sie waren und sind für mich auch als Glaubenserfahrung wichtig. Die Abschiedsbriefe aus dem Gefängnis Tegel von Helmuth und Freya von Moltke sind die eindrücklichsten und bewegendsten Dokumente über Widerstand und Ergebung aus der Sicht liebender Menschen.
Eindringlich sind auch die historiographischen Darstellungen des Historikers Saul Friedländer über Das Dritte Reich und die Juden sowie die in neun Bänden von Wolfgang Benz und Barbara Distel herausgegebene Enzyklopädie Der Ort des Terrors , die die Geschichte der vierundzwanzig nationalsozialistischen Stammlager und der über 1200 Nebenlager dokumentiert. Für mich gehört dieses Sammelwerk zusammen mit den vorher genannten Büchern zu den entscheidenden Quellen über die NS-Zeit. Ergänzt werden sie von den großen Hitler-Biographien Alan Bullocks, Ian Kershaws und Joachim Fests.
Auf dem Prüfstand: das deutsch-israelische und das christlich-jüdische Verhältnis
Aufsehen und Anteilnahme erregten großartige zeitgeschichtliche Fernsehsendungen, 1978/79 etwa die vierteilige amerikanische Fernsehserie Holocaust über die in Berlin lebende jüdische
Arztfamilie Weiss sowie 1985 die neunstündige Dokumentation Shoah des französischen Regisseurs Claude Lanzmann, für die hauptsächlich Zeitzeugen befragt wurden, und 1993 die Steven-Spielberg-Produktion Schindlers Liste . Diese drei Filme erreichten viele – vor allem auch junge Zuschauer, die sich zuvor wenig oder gar nicht mit den Verbrechen der NS-Zeit beschäftigt hatten. Oft erzeugten sie auch nachhaltige Anteilnahme und wurden so etwas wie ein Wendepunkt im öffentlichen Bewusstsein hinsichtlich des Holocaust. Es hat auch heftige vergangenheitspolitische Kontroversen gegeben, die aber letztlich befreiend wirkten. Stellvertretend nenne ich die Lernprozesse um die Wehrmachtsausstellungen sowie den leidenschaftlich geführten Historikerstreit.
Auch das Zusammenleben von nicht-jüdischen Deutschen und jüdischen Bürgern hat sich sehr erfreulich entwickelt. Dazu tragen zahlreiche neue Stätten der Erinnerung bei sowie die Förderung beim Bau von Synagogen, Kulturstätten und jüdischer Studien- und Forschungseinrichtungen. Oft empfinde ich es wie ein Wunder: Nach dem Krieg lebten nur etwa 15 000 Juden in Deutschland, zumeist Überlebende aus Osteuropa. Heute sind es über 100 000, darunter viele Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Es ist zu hoffen, dass auch sie in ihrer neuen Heimat Fuß fassen.
Alles in allem herrscht ein reges und selbstverständliches Zusammenleben zwischen Juden und nicht-jüdischen Deutschen in allen kulturellen Bereichen: Die Werke der israelischen Schriftsteller wie Amos Oz oder Ephraim Kishon gehören zu den deutschen Bestsellern. Der Film Alles auf Zucker! des Schweizer Regisseurs Dani Levy war ein großer Publikumserfolg, und Klezmer-Musik begeistert nicht nur die junge Generation. Es gibt jüdische Buchhandlungen und jüdische Kulturwochen, die gut besucht werden.
Schulklassen und Jugendgruppen engagieren sich gelegentlich gegen den Widerstand engstirniger Mitbürger für die Aufarbeitung des Schicksals einst ansässiger Juden oder überlebender
ehemaliger Zwangsarbeiter. Das Gleiche gilt für junge Menschen, die helfen,
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