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Und dennoch

Und dennoch

Titel: Und dennoch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hildegard Hamm-Bruecher
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als »Scheißliberale« beschimpft wurde, rief ich voller Zorn: »Ja, da fällt der rote Apfel nicht weit vom braunen Stamm.« Ungerührt sprach ich dann weiter über den Mut zur kleinen Utopie (siehe Text im Anhang), um den es mir und vielen Sozialdemokraten und progressiven Liberalen ging.
    Dafür gab es für mich damals drei politische Hoffnungsträger: Walter Scheel, Willy Brandt und Gustav Heinemann. Letzteren hatten SPD und FDP 1969 zum Bundespräsidenten gewählt. Er war kein großer Redner, jedoch einer der wenigen Politiker, der den Kern des Anliegens der »gegen den Muff von tausend Jahren« rebellierenden Studenten verstand: die beschwiegene und verdrängte NS-Vergangenheit der Elterngeneration. Unvergessen auch seine Reaktion auf die Frage, ob er sein Vaterland liebe. Er antwortete: »Ich liebe meine Frau.« Er war zu seiner Zeit der erste nüchterne »Ent-krampfer«. Ich mochte und schätzte ihn sehr.
    Jedenfalls fand ab den siebziger Jahren die Ära des Verschweigens und gegenseitiger Selbstrehabilitierung nach und
nach ein Ende, auch dank einiger Saulus-Paulus-Bekehrungen ehemaliger Nazis und um die Zukunft aufrichtig besorgter Demokraten aus allen Parteilagern. Die Gesellschaft der Bundesrepublik wandelte sich, wobei der Demokratieschub durch die Achtundsechziger-Studentenunruhen eine große Rolle spielte. Die Bundesbürger waren mehrheitlich nicht mehr von einer dumpfen, apologetisch vernebelten Mentalität der ersten Etappe der Nach-Hitler-Zeit geprägt, sondern wurden selbstkritischer und einsichtiger und waren bereit zu Reformen, die erhebliche Konsequenzen nach sich zogen. Es kam zum Epochenwechsel der sozialliberalen Koalition (siehe Kapitel 4).
    Im Frühjahr und Sommer des Jahres 2010 erlebten wir ähnliche Ansätze zur Überwindung einer neuerlichen Demokratieverdrossenheit. Die spontane Zustimmung, die dem idealistischen Demokraten Joachim Gauck anlässlich seiner Kandidatur zum Amt des Bundespräsidenten zuteil wurde, ist unserem Gemeinwesen wesentlich bekömmlicher, als es etwa die Wirkung der Thesen eines Thilo Sarrazin ist. Aber auch er findet – teilweise diffuse – Zustimmung. Deshalb ist demokratische Wachsamkeit geboten.
    Bürgerschaftliche Initiativen und andere Formen zur Aufarbeitung der Erblasten
    Die ersten bürgerschaftlichen Initiativen zur Aufarbeitung unserer Erblasten waren Ende der fünfziger Jahre entstanden. In dieser Zeit hatte der Jurist Lothar Kreyssig in der DDR die protestantisch geprägte Aktion Sühnezeichen gegründet, die jungen Menschen freiwillige Arbeitseinsätze in europäischen Ländern anbot, die von Hitler zerstört worden waren. Anfang der sechziger Jahre nahmen sie auch in der Bundesrepublik ihre Tätigkeit auf, erhielten jedoch, weil des Sozialismus verdächtigt, zunächst keine Unterstützung seitens der bundesdeutschen Regierung, auch nicht von den Kirchen. Nachdem sie aber – allen zum Trotz
oder trotz allem – 1965 den ersten Theodor-Heuss-Preis verliehen bekamen, wurden sie auch im Westen bekannt. Leider durfte zur Preisverleihung kein Vertreter der Aktion Sühnezeichen aus der DDR einreisen. Durch ihr jahrzehntelanges Engagement haben die Mitglieder dieser Organisation in der Bundesrepublik und in den Ländern ihrer Einsätze Ansehen und hohe Anerkennung gefunden. Heute nennt sie sich Aktion Sühnezeichen – Friedensdienste , weil ihre Projekte nun auch in weltweiten Armutsgegenden durchgeführt werden. Ich halte sie für eine der wichtigsten und anerkanntesten Initiativen, weil sie sich um moralische und humanitäre Friedensdienste bemüht. Ihre zunächst mit Argwohn beäugte Entstehungsgeschichte kennt heute kaum noch jemand.
    Ein weiteres Beispiel ist die vom Deutschen Evangelischen Kirchentag gegründete Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft , die auf Kirchentagen bis heute mit eigenen Programmen tätig ist. Ich habe mehrfach daran teilgenommen und war, obgleich theologisch ein absoluter Laie, immer tief beeindruckt von der Ernsthaftigkeit des interreligiösen Diskurses mit dem Ziel, Gemeinsamkeiten im Bibelverständnis zu entdecken und jahrhundertealten Vorurteilen zu begegnen. Mit diesem Engagement wurde die Evangelische Kirche und mit ihr eine wachsende Zahl junger motivierter Christen ab Mitte der sechziger Jahre zu einer Art Gewissensinstanz für versäumte Besinnung und Aufarbeitung. Auch empfinde ich bis heute die Beiträge der Christlich-Jüdischen Gesellschaften mit ihrer alljährlichen »Woche der Brüderlichkeit« – ich

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