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Und dennoch

Und dennoch

Titel: Und dennoch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hildegard Hamm-Bruecher
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alsbald die Oberhand gewannen.
    Heute, nach über zwanzig Jahren, ist immer noch die Rede davon, dass die innere Einheit unvollendet sei, und das sollte uns zu denken geben. Es heißt auch, es gäbe in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu wenig tonangebende Ostdeutsche, im Gesamtstaat dominiere überhaupt alles Westliche. Die Distanz, so wird beklagt, ist eher größer geworden. Das aber empfinde ich nicht als nationales Unglück. Bayern zum Beispiel wollte 1871 auch nicht ins Deutsche Reich und nach 1945 zunächst wieder unabhängig werden. Seine Politiker lehnten das Grundgesetz ab: Dennoch fühlt sich inzwischen auch der CSU-beherrschte Freistaat wohl in der BRD, und seine oft sperrige Eigenständigkeit kann den Gesamtstaat nicht gefährden.
    Ich jedenfalls bin stolz, dass es Deutsche gibt, die sich von der Diktatur selbst befreit haben. Und ich freue mich, dass wir ein freies Volk in einem freien Europa geworden sind. Nach allem, was wir verschuldet haben, ist das der Glücksfall in unserer Geschichte.

    Demokratie findet nicht nur im
Parlament und hinter verschlossenen
Türen statt, sondern im ständigen
Zusammenwirken mit den Bürgern.

5
Über die Notwendigkeit einer Demokratiepolitik und eines Demokratie-TÜV
    Die Gedanken zu diesem Kapitel würden ein eigenes Buch füllen, wollte ich auf alle heutigen Bedrohungen für die Demokratie in Deutschland und international eingehen, zum Beispiel Klimawandel, irreparable Umweltzerstörungen, Armut, unkontrollierbare Waffenpotenziale, Übervölkerung oder vor allem Gefährdungen durch das Internet. Das aber würde zu weit führen. Stattdessen möchte ich die demokratiepolitischen Defizite zusammenfassen, die ich in der Bundesrepublik während meines langen Politikerinnenlebens erfahren, oftmals erlitten und mehr als einmal zornig beanstandet habe. Es sind dies Gefährdungen und Defizite, die bis heute schwelen oder bereits an die Oberfläche getreten sind.
    Es handelt sich dabei um ein wenig erfreuliches Kapitel unserer Demokratiegeschichte, das man schönreden oder schlechtreden, aufbauschen oder auch totschweigen kann. Nichts dergleichen möchte ich tun, es stattdessen insoweit offenlegen, als es nach meiner Überzeugung das Wohl und Wehe der Zukunft unserer Staats- und Gesellschaftsform betrifft.
    Demokratie-TÜV gegen Bürgerunmut
    In der Außenansicht wirkt unsere Demokratie einigermaßen stabil und recht lebendig, es gibt immer mal Aufgeregtheiten, die aber schnell wieder abflauen, wenn die nächste vom Band rollt: So wenn wichtige Leute zur Unzeit zurücktreten, wie der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler, der Hamburger Exbürgermeister Ole von Beust oder der einstige hessische Ministerpräsident
Roland Koch. Oder wenn explosive Bücher erscheinen, wie das von dem früheren Berliner Senator Thilo Sarrazin, das wiederholt in jeder Talkshow durchgeschnattert wurde. Oder wenn Bürgerunmut zu gewaltbereiten Turbulenzen anschwillt wie im Herbst 2010 im sonst so braven Stuttgart, wobei es um mehr als nur um den Abriss des Bahnhofs ging.
    Lauthals artikulierter Unwille gehört zu den Bürgerrechten in einer Demokratie, der, wenn er einigermaßen fair verläuft, keinen Dauerschaden anrichtet, sondern sogar zu Lernprozessen und einvernehmlichen Lösungen führen kann. Offenbar aber liegen hierzulande die Ursachen für die allgemein wachsende Unmuts- und Protestbereitschaft tiefer. Sie ist nicht mehr nur Ausdruck punktueller Verdrossenheit, sondern Anzeichen einer latenten, nicht länger zu ignorierenden generellen Unzufriedenheit des Volkes mit ihrer demokratischen Obrigkeit und deren Repräsentanten. Noch ist es keine Demokratiekrise, wohl aber gibt es Anzeichen dafür. Denn eigentlich könnten wir ja hochzufrieden sein, dass wir uns nach einer derart schweren Wirtschafts- und Finanzkrise so rasch wieder erholt haben.
    Die Entfremdung stammt also aus anderen Quellen, und ich denke, dass sie von einem tief sitzenden Glaubwürdigkeitsdefizit herrührt, das nicht durch das Verteilen von Wohltaten, sondern nur durch ernsthafte Veränderungen im Gefüge unserer Demokratie aus der Welt zu schaffen ist. Es gibt Erscheinungen, die nicht zu übersehen sind und die ich als alarmierend beurteile. Zum Beispiel wenn die Wahlbeteiligung von Mal zu Mal eklatant abnimmt und die Nichtwähler zur stärksten Partei werden. Wenn nach jüngsten Umfragen nur noch 20 Prozent der Bürger mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden sind und nur noch eine Minderheit Vertrauen zu

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