Und dennoch
Anpassung gelebt, im Laufe der Jahre kam es auch zu Gewöhnung, was ich bei meinen wiederholten Besuchen in der DDR selbst bei ansonsten oppositionellen Christen immer wieder erlebt habe.
Durch meine Kirchentagsarbeit in den achtziger Jahren konnten wir viele behutsame Gespräche mit offiziellen Vertretern des Evangelischen Kirchenbunds der DDR führen. Wir nahmen auch an regionalen Kirchentagen teil, halfen, wo auch immer es möglich war. Der vorletzte Kirchentag fand 1988 in Rostock statt, unter der mutigen Leitung des Stadtpfarrers Joachim Gauck, der allen Besuchern aus Ost und West — Exkanzler Helmut Schmidt war am letzten Tag angereist gekommen — Zuversicht und Verbundenheit vermittelte.
In Rostock hatte ich erstmals Kontakte mit Vertretern von Friedens-, Umwelt- und Bürgerrechtsgruppen sowie mit Kriegsdienstverweigerern in der DDR. So lernte ich dort diejenigen kennen, die zu Vorkämpfern der friedlichen Revolution wurden: Jens Reich, Konrad Weiß, Friedrich Schorlemmer, Bärbel Bohley und Ulrike Poppe. Ich war sehr beeindruckt und erinnerte mich an die Zeit des studentischen Widerstands Anfang der vierziger Jahre. Nur etwa vierzehn Monate nach dem Kirchentag erlebte ich den Fall der Mauer sehr persönlich und intensiv.
Folgen der überstürzten Vereinigung
Aufgrund dieser meiner früheren Begegnungen beurteilte ich die Schwierigkeiten der inneren Wiedervereinigung realistischer als die damaligen euphorisierten Verkünder »blühender Landschaften« und eines mehr oder weniger problemlosen Beitritts. Ich plädierte dafür, den West-Ost-Dialog geduldig und auf Augenhöhe
zu führen, denn eine rasche Übernahme konnte nur eine von arm zu reich sein — eine Art freundlicher Unterwerfung. Diese geschah aber, und so gab es nach der deutschen Vereinigung alsbald so manche Enttäuschung auf beiden Seiten. Das hatte ich ohnehin befürchtet und schrieb deshalb ein kleines Traktat, das den Titel Wider die Selbstgerechtigkeit. Nachdenken über Sein und Schein der Westdeutschen trug. Darin plädierte ich für den Vollzug des letzten Artikels des Grundgesetzes (146), der da lautet:
Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.
Leider ist es zu diesem Plebiszit nicht gekommen, und das hat sich als ein Versäumnis erwiesen. Gewiss, ohne Volksabstimmung war der Weg am reibungslosesten, und die temporäre Begeisterung hatte alle weiterführenden Überlegungen überlagert. Dennoch wäre eine Abstimmung über die Zustimmung zum Grundgesetz per Volksentscheid die demokratische »Krönung« der Vereinigung gewesen und hätte vielen späteren emotionalen Abkühlungen zwischen den Ost- und Westdeutschen vorgebeugt. Eine Volksabstimmung hätte den Willen des ganzen Volkes bekundet, und die Vereinigung wäre nicht allein Sache der Politiker gewesen. Damit hätten die Bürger das glückliche Ende der vierzigjährigen Teilung mit ihrer Stimme besiegeln können. Auch hätte man versuchen können, ins Grundgesetz die eine oder andere Formulierung einzufügen, die den Ostdeutschen besonders am Herzen lag, zum Beispiel das »grundsätzliche« Recht auf Arbeit oder auf Wohnraum.
Zu einem solchen geduldigen Verständigungsprozess blieb keine Zeit. Man umging den Artikel 146, indem man die Vereinigung als Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes erklärte. Das hatte zur Folge, dass das Grundgesetz den Bürgern in den Ost-Bundesländern mehr oder weniger fremd geblieben ist, und
das bis heute: Aus »Brüdern und Schwestern« wurden (Jammer-) Ossis und (Besser-)Wessis.
Auch habe ich besonders bedauert, wie rasch die Bürgerrechtler trotz ihres vorbildlichen Dissidententums im Zuge der Vereinigung durch ostdeutsche Wendehälse und westdeutsche Gleichschalter ins Abseits gerieten. Eigenständige Persönlichkeiten wie Reich, Weiß, Schorlemmer, Bohley, Poppe oder der Leipziger Pfarrer Führer haben in der Aufarbeitungszeit nach der Vereinigung sehr gefehlt. Im ersten und letzten DDR-Wahlkampf im März 1990 habe ich sie mit zwei Wahlveranstaltungen unterstützt – leider erfolglos. Das wiederum erinnerte mich ein wenig an die Zeit nach 1945, als nicht die verfolgten Widerstandskämpfer und Emigranten erste Anerkennung und gesellschaftlich wichtige Positionen erhielten, sondern viel zu viele braune Wendehälse
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