Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und dennoch

Und dennoch

Titel: Und dennoch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hildegard Hamm-Bruecher
Vom Netzwerk:
Funktionsfähigkeit und Glaubwürdigkeit der Demokratie gefährdenden Missverständnisses:
    Wir haben nämlich auf die beiden großen politischen und militärischen Schiffbrüche dieses Jahrhunderts zwar mit idealtypischen demokratischen Musterverfassungen reagiert, diesen aber eine »Harmonielehre« hinzugesellt, die einer Art Gesellschaftsphilosophie obrigkeitsstaatlichen Denkens und Verhaltens gleichkommt. Auf diese Weise haben wir – gewollt oder nicht – den gesellschaftspolitischen Vollzug der Verfassung der Freiheit zwei Jahrzehnte lang eingeschränkt, teilweise sogar verhindert. Außerdem sind als Folge dieser Harmonielehre gerade bei jungen Menschen einerseits Illusionen über den möglichen Grad der Vollkommenheit einer Demokratie entstanden und andererseits bittere Enttäuschung über ihre Wirklichkeit.
    Bitte verzeihen Sie, dass ich insistiere! Eben weil wir uns dieser Zusammenhänge immer noch nicht ausreichend bewusst sind, bedarf es einer provozierenden Diagnose: Solange wir nicht akzeptieren wollen, dass eine Demokratie nicht nur Konflikte ertragen und austragen muss, sondern dass sie durch Spannungen und Konflikte überhaupt erst lebens- und widerstandsfähig wird, so lange besteht die Gefahr, dass sie an eben diesen Konflikten zerbricht.
    Ich weiß, es ist leicht gesagt, dass auch wir alle Anstrengungen unternehmen müssen, den Protest durch demokratische Initiative quasi zu legalisieren, bevor er sich radikalisiert oder gar revolutioniert, aber es ist schwer getan! Denn der Stau des Unbehagens an dem Demokratisierungsrückstand in unserer Gesellschaft ist mittlerweile viel zu groß und stark geworden, als dass er ohne Explosionsgefahr abgebaut werden könnte.

    Nun soll plötzlich alles auf einmal geschehen – und wir wissen sehr wohl, dass dies nicht zu schaffen ist.
    Wenn wir eine Staats- und Gesellschaftsform wünschen – und wir wünschen sie! –, die freiheitlich, offen, anti-autoritär und emanzipatorisch sein soll, dann müssen wir konsequenterweise aufgeben, Demokratie zu einem in sich stimmigen Ideal zu stilisieren. Denn wer Selbstbestimmung für sich fordert, muss sie auch anderen zugestehen – wer Repression anklagt, darf selber keine ausüben – wer Freiheit für sich beansprucht, muss die der anderen verteidigen – wer Manipulation verurteilt, darf sich ihrer nicht schuldig machen.
    Genau an dieser Stelle lässt sich zeigen, welch ein kompliziertes Wagnis Demokratie und Erziehung zu ihr in Wirklichkeit sind: Denn demokratische Erziehung muß zu der Einsicht führen, daß die Sehnsucht nach Freiheit, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit niemals absolut, sondern bestenfalls relativ erfüllt werden kann. Erst wenn wir diese Gesetzmäßigkeit wirklich absorbiert haben, können sich grundlegende Bewusstseins- und Verhaltensänderungen von selbst verstehen. Eine freiheitliche Demokratie ist dann weder die beste aller Staatsformen (wie uns viele Schulbücher und Sonntagsreden glauben machen) noch die schlechteste aller Staatsformen (wie das APO-Ideologen ihre Anhänger glauben machen möchten), Demokratie ist vielmehr die einzige Staatsform, die die Chance bietet zur evolutionären Veränderung und Erneuerung und zu den Formen der Selbstverwirklichung, die heute mit den Begriffen Autonomie oder Emanzipation belegt werden.
    Um diesen Zeiten näher zu kommen, müssen wir jedoch zuallererst und immer wieder die Unvollkommenheit der Demokratie bewusst machen und Demokratie als eine Möglichkeit begreifen, für die zu engagieren es sich immer wieder lohnt!
    Ein solches realistisches Demokratieverständnis lässt sich dann weder als Harmonielehre noch als Revolutionstheorie predigen. Es lässt sich überhaupt nicht predigen, sondern nur einsichtig machen und praktizieren. (…)

    Wenn man sich einmal mit der Geschichte und dem Schicksal von Reformen und Reformern in Deutschland beschäftigt, dann fällt zweierlei auf. Erstens: Reformen kamen bei uns immer nur unter dem Druck unglücklicher Umstände zustande — niemals aber aus der eigenen Kraft rechtzeitiger Initiative und Einsicht, und zweitens: Reformer werden immer erst dann und posthum mit einer Gloriole des Heroischen verehrt, wenn die nächste Reform eigentlich schon recht fällig wäre. (…)
    Deshalb, meine ich, sollten wir unsere Bilderbuchvorstellungen von Reformen gründlich entzaubern und uns auch nicht in Utopien für übermorgen flüchten, mit denen uns Zukunftsforscher das Staunen und Fürchten lehren: Denken wir über

Weitere Kostenlose Bücher