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Und dennoch

Und dennoch

Titel: Und dennoch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hildegard Hamm-Bruecher
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    Die Partei oder die Persönlichkeit, denen Sie Ihr Vertrauen schenken, werden es zu rechtfertigen haben. Vertrauen ist gegenseitig und muss wachsen, und so erschiene es mir wichtig, dass Gemeinderatssitzungen in Zukunft häufiger als bisher öffentlich abgehalten werden und dass dann allerdings von dem Recht der Teilnahme auch fleißiger Gebrauch gemacht wird.
    Es gibt keinen Grund, zu verzagen oder klein beizugeben. Im Laufe der nächsten Monate werden wir auch mit dem Bau des Hauses eines demokratischen Staates beginnen können. Lassen Sie uns die Zeit nützen und die Fundamente zu diesem Bau stärken. An Wunder dürfen wir allerdings nicht glauben – wohl aber an unsere Kraft und an die Fähigkeiten, mit denen wir begabt wurden!
    Über den Mut zur kleinen Utopie
Auszüge aus der Festrede zur Eröffnung des Hessentages in Gießen am 27. Juni 1969
    Das ist also unsere Generation – die der Vierzigjährigen und älter –, aufgewachsen in permanent autoritären Abhängigkeiten, eingebunden in überkommene, kaum je in Frage gestellte Traditionen und Ordnungen, leidgeprüft, aber dennoch, um Alexander Mitscherlich zu zitieren, unfähig zu trauern. – Für uns ist und bleibt Demokratie eine Staatsform, mit der wir uns während der letzten zwanzig Jahre zwar arrangiert haben, weil sie uns Wohlstand, Sicherheit und alle Annehmlichkeiten der Freiheit gebracht hat, ohne indes unser politisches Denken, Handeln und Verhalten (wiederum trotz mancher mutiger Ansätze) recht entscheidend zu verändern.
    »Auswählen können und nachbestellen – das verstehen sie unter Demokratie«, so urteilt der Primaner Philipp Scherbaum in dem interessanten neuen Lesestück von Günter Grass »Davor« über diese unsere Generation, und seine Freundin Vero, die »ihren Mao liest wie unsere Mütter Rilke«, ergänzt an anderer Stelle mit aggressiver Verachtung: »Sie wollen die Welt bestenfalls noch interpretieren, ändern, das schaffen sie nicht!«
    Unverblümter und unmissverständlicher lässt sich der harte Kern des Generationenkonfliktes mit den Dreißigjährigen und Jüngeren nicht beschreiben: sie wollen die Welt verändern, und unsere apologetische Wenn- und Aber-Interpretation ist ihnen unbegreiflich – ja zuwider. Sie wollen weder von unseren Irrtümern noch von unseren Erfahrungen und Einsichten etwas wissen, weil sie unser mangelhaftes politisches Engagement bemerken und unsere obrigkeitsstaatlichen Attitüden nicht nachvollziehen wollen. Deshalb distanzieren und emanzipieren sie sich in einem Atemzug von unseren Vorstellungen von Demokratie – kann man es ihnen verdenken?
    So ungerecht und schmerzlich es im Einzelnen für uns sein
mag: Diese Generation schreibt uns nicht gut, was wir für ihr materielles Wohlergehen getan haben, sie misst uns nicht an dem, was wir seit 1945 geschafft und aufgebaut haben (und wir wissen, dass es nicht wenig ist!), sondern an dem, was wir nicht – oder doch nur in Ansätzen – geschafft haben: eine gesellschaftspolitische Interpretation und Realisierung der demokratischen Staatsform, durch Chancengleichheit in allen Bereichen des sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens, durch ein modernes und fortschrittliches Schul- und Hochschulsystem, durch Reformen in Justiz, Parlamenten und Verwaltungen, durch den Abbau obrigkeitsstaatlicher Strukturen und – wie es Prof. W. Hennis formulierte – durch eine »neue Leidenschaft des Kopfes« für die Probleme der durch Selbstzerstörung zutiefst bedrohten Welt.
    Ja, das sind tatsächlich Versäumnisse – unsere Versäumnisse; und kein Protest, und sei er noch so ungesetzlich und unerträglich, entlässt uns aus unserer Verantwortung dafür! Diese selbstkritische und nüchterne Position wird uns abverlangt. Aber es wird uns zusehends schwerer gemacht, diese Position zu halten und zu festigen, wenn die Grundgebote unserer freiheitlichen Ordnung mit Füßen getreten, mit Farbeiern beworfen, mit Buttersäure verpestet, durch Psychoterror pervertiert, durch Manipulation und repressive Intoleranz außer Kraft gesetzt werden.
    Jürgen Habermas belegt in seiner wichtigen Dokumentation »Protestbewegung und Hochschulreform« Schritt für Schritt den Weg der Wortführer der außerparlamentarischen Opposition in eine anti-demokratische Opposition; er weist die Entwicklung einer ursprünglich unter dem Gesetz der Rationalität und nach den »Prinzipien aufgeklärten Handelns« angetretenen Protestbewegung

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