Und dennoch
Schrecken und alles Un-Heil verblasst und alle unmittelbare Betroffenheit mangels Zeitzeugen vergessen sein werden? Wie kann eine weiterwirkende Kultur der Erinnerung entstehen, ein mahnendes »Memento«, ein: Seid und bleibt wachsam! Eine Art Kodex unserer politischen Erfahrungen, eingeschlossen die Irrtümer und Verhängnisse, die zu den Schrecken und Verbrechen der NS-Zeit und ihren Folgen geführt haben. Was wir also brauchen und woran wir arbeiten müssen ist: Geschichtsverantwortung im Geiste Schillers!
Hier stehen wir vor einer demokratiepolitisch und demokratiepädagogisch eminent wichtigen Aufgabe, die auch für Universitäten gestellt ist. Vor sogenannter »Normalität«, das heißt Gleichgültigkeit und/oder Unzuständigkeit für weiterwirkende Verantwortung muss durch Aufklärung in Forschung und Lehre gewarnt werden! Dabei kann und soll auch an das Leid der Flüchtlinge, Vertriebenen und der Opfer von Bombenangriffen erinnert werden. Auch dieses Leid gehört zu unserer Geschichte. Das Gedenken darf aber nicht als »Aufrechnung« des eigenen Leids gegen die von Deutschen verübten Untaten und Verbrechen missbraucht, relativiert oder gar verrechnet werden. Damit tun wir uns noch schwer. Dennoch: beides kann gelingen, wenn wir uns aufrichtig darum bemühen.
Notwendig ist es auch, alte und junge Menschen vor den Folgen eines neuerlichem Wegsehens und Vergessens zu warnen und damit vor NS-Parolen im neuen Gewand zu immunisieren. Jedoch: Ein nachhaltiges Geschichtsverständnis – hier vor allem für unsere Zeitgeschichte — lässt sich weder durch Doku-Thriller im Fernsehen noch durch ein einstündiges Lernfach pro Woche vermitteln. Es muss zu einem zivilbürgerlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag aufgewertet werden, wie wir ihn mit dem Förderprogramm Demokratisch handeln, wie wir ihn, gemeinsam mit zunehmend engagierten Lehrern – ab heute mit der in Jena stattfindenden »15. Lernstatt Demokratie« erproben. Denn wie anders als durch zeitgeschichtlichen Rückbezug können wir Heranwachsenden erklären, was es mit den NS-Parolen auf sich hatte und wohin sie geführt haben. Das Kalkül der alt-neuen Rechten und ihrer nicht wenigen »fellow-travellors«, unter der NS-Vergangenheit einen endgültigen »Schlussstrich« zu ziehen, sobald keine Opfer dieser Zeit mehr leben, diese perfide Hoffnung darf sich keinesfalls erfüllen! Meine These: Die Ausbreitung des Rechtsextremismus kann nur eingedämmt werden, wenn wir nicht nur Abscheu demonstrieren, sondern seine vergifteten ideologischen Wurzeln immer wieder aufdecken und seine populistisch getarnten Parolen mit geschichtlichen Tatsachen offensiv widerlegen. (…)
Haben wir uns nach 1945 unserer politischen Geschichte gewissenhaft gestellt und aus ihren Irrtümern gelernt? Haben wir unser Bestes getan, um die künftige Geschichte sinnvoller zu machen? — Ja, wir haben viel gelernt! Wir haben eine funktionsfähige, (wenn auch unter Reformfähigkeits- und Glaubwürdigkeitsdefiziten leidende) Demokratie und einen (gelegentlich beinahe über-) funktionierenden Rechtsstaat geschaffen, wir halten Frieden mit unseren europäischen Nachbarn und bemühen uns, zum Frieden in der Welt beizutragen. Wir haben uns, wenn auch oft verspätet, um Entschädigung und Wiedergutmachung in unserem Namen begangenen Unrechts und begangener Verbrechen
bemüht. Ja, ich denke, wir haben aus unseren Irrtümern gelernt, aber: wir haben noch nicht ausgelernt! Der Auftrag, die »sinnlose Tragik unserer Geschichte als Aufgabe zu begreifen und unser Bestes zu tun, um künftige Geschichte sinnvoller zu machen«, bleibt gestellt. Dieser Auftrag gilt für uns alle, auch und vor allem für die Schulen und Hochschulen unseres Landes — für ihre Lehrenden und Lernenden. In ganz besonderer Weise gilt er jedoch für die Universität, die den Namen des großen deutschen Aufklärers und Wegbereiters der Freiheit – Friedrich Schiller – trägt. – Ich bin dankbar und wäre glücklich, wenn ich mit meiner Vorstellungsrede als Ihre doktoressa honoris causa ein kleines Scherflein dazu beitragen konnte.
Textnachweise
Wahlkampf 1948, entnommen aus: Hildegard Hamm-Brücher, Gegen Unfreiheit in der demokratischen Gesellschaft (München 1968).
Über den Mut zur kleinen Utopie, entnommen aus: Hildegard Hamm-Brücher, Kämpfen für eine demokratische Kultur (München 1986); abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Piper Verlags.
Redebeitrag zum Konstruktiven Misstrauensvotum vom 1. Oktober
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