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Und der Herr sei ihnen gnädig

Und der Herr sei ihnen gnädig

Titel: Und der Herr sei ihnen gnädig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Faye Kellerman
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vorzubringen, aber schon nach wenigen Minuten schenkten mir neunzig Prozent der Anwesenden keine Aufmerksamkeit mehr. Manche sahen ständig zur Wanduhr hinüber oder ließen den Blick im Raum umherwandern, andere betrachteten ihre langen, kunstvoll lackierten Nägel. Ein paar trugen eine frische Schicht Lippenstift auf, und einige zogen Teenager-Zeitschriften heraus und blätterten darin herum, während ich sprach. Ich konzentrierte mich auf die wenigen, die mir noch zuhörten.
    Ich begann mit den Gesetzen, die das Aussetzen von Säuglingen betrafen: Wenn das Kind innerhalb von vierundzwanzig Stunden vor einem Polizeirevier oder einem Krankenhaus abgelegt wird, hat die Mutter nicht mit gerichtlichen Folgen zu rechnen. Und selbst wenn sie das Kind anderswo aussetzt, kann sie der gerichtlichen Verfolgung entgehen, wenn sie sich innerhalb von zweiundsiebzig Stunden meldet. Es gab einfach keinen Grund, einen Säugling wie Müll zu entsorgen.
    Als ich den Fall der vorangegangenen Nacht zur Sprache brachte, zeigten ein paar der Mädchen einen Hauch von Interesse. Doch die meisten fuhren fort, mit den Füßen zu scharren, sich zu räuspern und auf die Uhr zu starren. Zehn Minuten vor Ende der Stunde fragte ich, ob jemand Kontakt mit einer verzweifelten Schwangeren gehabt habe, bei der es sich eventuell um die Mutter handeln könnte. Ich erklärte ihnen, dass das Mädchen psychologische Hilfe und medizinische Betreuung brauche. Wie sie sicher verstehen könnten, befinde sie sich in einer emotional sehr schwierigen Lage. Ich richtete mein Plädoyer vor allem an ein Mädchen, das in der zweiten Reihe auf der linken Seite saß und ein ärmelloses rostrotes Zeltkleid trug. Sie hatte runde braune Augen und langes, glattes blondes Haar, das ihr bis zur Schulter reichte. Ein hübsches kleines Ding, auch wenn auf ihren linken Oberarm ein kitschiger, von einem Herzen eingerahmter Schmetterling tätowiert war. Auf ihrer rechten Schulter prangte in schwungvoller Schrift der Name CARISSE. Sie erwiderte meinen Blick, aber als die Glocke ertönte, sprang sie auf und eilte zur Tür, ihre Bücher an den üppigen Busen und den übergroßen Bauch gepresst. Ich rief den Namen, der in Blau auf ihre Haut tätowiert war. Sie drehte sich um.
    »Kann ich noch einen Moment mit dir sprechen?« Carisse blieb stehen.
    »Ich hatte den Eindruck, dass du mir eben recht aufmerksam zugehört hast, als ich von dem Mädchen -« »Tut mir Leid, aber ich muss los, ich komme sonst zu spät in die nächste Stunde.«
    »Ich schreibe dir eine Entschuldigung.«
    Sie warf ihr blondes Haar zurück.
    »Nun komm schon«, drängte ich sie. »Erzähl mir, was du weißt. Du kennst das Mädchen, von dem ich gesprochen habe?«
    »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie glauben wohl, ich kenne jedes Mädchen in der Stadt, das sich ein Kind hat machen lassen, aber da täuschen Sie sich.«
    »Na schön, dann kennst du sie eben nicht persönlich. Aber vielleicht hast du ein Mädchen gesehen, das ins Bild passen würde.«
    Carisse schob ihre Bücher ein wenig höher. »Nicht weit von hier, vielleicht... ein paar Häuserblocks weiter östlich... « »Ja?«
    »Abends an einer Bushaltestelle. Nicht weit von dort, wo ich wohne. Da habe ich ein paarmal ein Mädchen auf der Bank sitzen sehen. Sie ist nie in den Bus eingestiegen, und ich habe sie auch nie aussteigen sehen. Sie hat bloß da gesessen. Vielleicht eine Obdachlose. Ich weiß nicht mal, ob sie wirklich schwanger war. Auf jeden Fall war sie ziemlich fett und seltsam angezogen. Sie saß einfach so auf der Busbank und las immer dasselbe Buch. Jetzt hab ich sie schon ein paar Wochen nicht mehr gesehen ... vielleicht auch länger. Ich hab mich gefragt... na ja, ob ihr womöglich was passiert ist.«
    »Was denn zum Beispiel?«
    »Sind Sie die Polizistin oder ich? So weit östlich... das ist nicht gerade Beverly Hills. Es gibt da viele Gauner und jede Menge arme Gammler.«
    »Hey, Carisse, ich weiß, wen du meinst«, meldete sich eine andere Stimme zu Wort.
    Ich drehte mich um. Das Mädchen hatte kurzes schwarzes Haar und ein fast weiß geschminktes Gesicht, aus dem ihre schwarz umrandeten Augen und ihr schwarzer Lippenstift besonders herausstachen. Sie trug ein schwarzes, wadenlanges Kleid und klobige Stiefel. Ich hatte eigentlich geglaubt, der Gruftilook wäre längst out, aber da hatte ich mich wohl getäuscht. Sie streckte mir die Hand hin. »Rhiannon... wie die Hexe in dem Song von Fleetwood Mac.«
    Carisse verdrehte die Augen.

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