Und der Wind bringt den Regen
hat sich bewegt.»
«Wenn es ein Einbrecher war, wird er nach oben gegangen sein», sagte Großtante Min.
«Nein, es war bestimmt nichts», versicherte Nell.
«Meinst du nicht, du solltest mal raufgehen und nachsehen, Albert?» fragte Edith.
«In der Küche ist eine Kerze, Albert», meinte Oma. Sie hielt den Vorschlag für eine gute Idee.
«Da oben ist bestimmt niemand», entschied Albert, der es auch gar nicht so genau wissen wollte.
«Es ist wirklich alles in Ordnung», beteuerte Nell. In diesem Augenblick hörte man, wie die Haustür geöffnet und gleich darauf lärmend zugeschlagen wurde, dann laute Schritte und laute Stimmen im Gang. «Klingt wie Alice und Walter», sagte sie erleichtert.
«Wird auch Zeit», meinte Mabel, die ungeduldig auf Walter gewartet hatte. Er brachte immer Leben in die Bude, fand sie. Die Nacht der Sorgen und der Schmerzen war nicht gerade ein Spaß gewesen.
Alice und Walter kamen ins Zimmer. Alice hatte eine böse Falte zwischen den dunklen Augen; sie warf Nell einen herausfordernden Blick zu. Und Walter machte - vielleicht zum erstenmal in seinem Leben - einen unsicheren Eindruck. Beide sahen etwas zerdrückt aus und schienen irgendwie gereizt. Jedenfalls kam es Nell so vor.
«Du kommst spät, Kind», sagte Oma. «Mit dem Singen sind wir schon fertig.»
«Gott sei Dank», murmelte Alice, und laut sagte sie: «Es kam gerade ein neuer Schub.» Sie schob eine Haarsträhne aus der Stirn. «Kaputtgeschossen bis auf die Knochen, alle, und blutverschmiert, aber selig, daß sie wieder in der Heimat sind.»
Niemand sagte etwas. Schrecklich, wie Alice sich jetzt immer ausdrückte, seit sie im Lazarett arbeitete. «So gewöhnlich», fand Oma im stillen. «So hat sie früher nie geredet.»
Walter, der bisher ungewöhnlich schweigsam gewesen war, grinste jetzt Benbow an. «Na, was macht denn der kleine Hindenburg?» Er hielt ihm seine beiden leeren Hände hin, drehte sie ein paarmal hin und her und husch! die linke Hand hielt eine Bonbontüte.
«Danke», sagte Benbow. So etwas wie Ehrgefühl gab es für ihn noch nicht. «Du, Onkel Walter, da war was vorn an der Haustür - hast du es gesehen?»
«Nein, mein Junge, hab ich nicht. Na, geht’s allen gut? Oma, Sie sehen prima aus - wie siebzehn.»
Oma erstrahlte und sah auf einmal wohler aus als seit Monaten. Walter bemühte sich, auch die anderen von der Haustür abzulenken. Händereibend wandte er sich an Nell, Edith und die beiden Großtanten. «Also nein - ich weiß nicht. So viel Schönheit auf einem Haufen. Ist ja wie bei einer Miss-Wahl.»
«Ach, setz dich hin und halt die Klappe, Walter», sagte Alice gereizt. Sie war müde und erschöpft. Sie wollte in Walter einen guten Freund sehen, einen Mann mit ein bißchen Geld, der sie manchmal für eine kleine Weile die Ströme von Blut und den unablässigen Kampf gegen die Schmerzen der Verwundeten vergessen ließ. Aber jetzt sah sie ihn mit den Augen der anderen: als den lauten Grobian, der er in Wirklichkeit war. In ihrem Blick lag Verachtung, als sie ihn ansah: den untersetzten Mann mit dem runden fleckigen Gesicht, nur zehn Jahre älter als sie, aber trotzdem schon in fortgeschrittenem Alter, laut und vulgär. In diesem Augenblick haßte sie ihn. Sie haßte auch Nell, weil sie sie bei den paar Minuten gestohlenen Liebesglücks überrascht hatte. Sie haßte ihre ganze fromme Familie, die Kirchenlieder sang und zu einem Gott betete, der zuließ, was sie täglich im Saal 4 erlebte. Sie haßte Frank Hardy, weil er all das besaß, was Walter nicht hatte, und was sie im stillen so sehr bewunderte. Und am meisten haßte und verachtete sie sich selber.
Walter setzte sich, wie befohlen, und spreizte die Wurstfinger 1 auf den breiten Knien. Aber die Klappe hielt er nicht. Das konnte er nicht, wenn er sich so unsicher fühlte wie jetzt. Beflissene Freundlichkeit rann ihm aus allen Poren. «Erinnern Sie mich dran, Dad - ich hab was für Sie in der Manteltasche. Vom Osterhasen, haha.»
Wenn Walter ihn bloß nicht immer Dad nennen wollte, dachte Opa. Er war ja nicht mal verlobt mit Alice, und würde es auch nie sein, solange Frank Hardy den Bomben und Granaten entkam. Und so auffällig brauchte er es auch nicht zu machen. Opa durfte sich schließlich nichts zuschulden kommen lassen—er war Vorbild für die anderen. Niemand konnte behaupten, daß er Wurst ohne Marken billigte: er aß sie bloß so gern, das war alles. Und ein Mann, der sie mit deutlicher Abneigung entgegennahm, konnte doch wohl
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