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Und der Wind bringt den Regen

Und der Wind bringt den Regen

Titel: Und der Wind bringt den Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Malpass
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plötzliche Freundschaft war für Nell das Schönste, das ihr seit Toms Tod widerfahren war. Der Tee war heiß und stark und süß. Nell betrachtete Alices blasses müdes Gesicht und wartete sehnsüchtig auf ein Lächeln. Endlich sah Alice sie an und verzog die Lippen zu einem kleinen Lächeln, starrte aber, als schäme sie sich der Gefühlsaufwallung, gleich wieder wortlos in ihre Teetasse.
    So blieben sie sitzen, beide überrascht von der neuen Kameradschaft. Die ganze Zeit fürchtete Nell, gleich werde Walter hereinstürzen und alles verderben. Erst als sie hörte, wie Edith zu Ein Wölkchen aus Staub ansetzte, wußte sie, daß sie noch mindestens eine Viertelstunde Frist hatten, denn so lange mußte Walter den Indischen Liebesliedern zuhören.
     
    «Was ist das?» fragte Alice plötzlich.
    Sie lauschten. Von draußen kam ein langgezogener Ton, klagend und doch bedrohlich, ein einzelner Ton in der leeren Nacht. Alice riß die Tür zum Wohnzimmer auf und befahl: «Sei still, Albert.»
    Albert hatte gerade die Stelle erreicht, an der sich zwei blasse Hände um seinen Hals schmiegten, und wie immer legte er sein ganzes Gefühl und seine ganze Stimmgewalt in die erschütternden Worte. Verwirrt brach er ab. Edith warf ihrer Schwester einen bösen Blick zu und ließ beide Hände auf die Tasten fallen.
    «Horcht doch», sagte Alice. «Extrablatt.»
    Sie lauschten. Jetzt hörten sie alle den fernen geisterhaften Ruf, der ihnen vier Jahre lang gute und böse Nachrichten angekündigt hatte. «Extrablatt! Extrablatt!» Ein Zeitungsjunge rief es durch die leeren, verlassenen Straßen, einsam wie ein Vogelruf über kahlen Ebenen. «Lauf schnell und hol eins, Nell», sagte Opa. Er suchte in der Tasche nach einem Penny, fand aber keinen.
    «Ich geh schon.» Nell lief in den Flur und holte Hut und Mantel.
    «Darf ich mit?» fragte Benbow und beobachtete, wie sich die Mutter zwei lange Hutnadeln in die Haare schob. (Wieder etwas, das er vergeblich versucht hatte. Bei ihm taten sie weh.)
    «Ja», sagte Nell und nahm damit Oma, Edith und Großtante Min den Wind aus den Segeln, denn sie alle hatten schon den
    Mund geöffnet, um zu sagen: «Natürlich nicht, Junge, dafür bist du viel zu klein.»
    Sie gingen.
    «Na, ich weiß nicht», sagte Oma mißbilligend. «Als Tom so klein war, haben wir ihn jedenfalls nachts nicht auf die Straße gelassen.»
    «Er wird’s auf der Brust kriegen», unkte Großtante Min.
    «Nicht mal ’ne Mütze hat er auf», sagte Edith.
    «Wird wohl der Durchbruch sein», meinte Albert. «Ihr könnt mir glauben, der Hunne ist am Ende seiner Kräfte.» (The People.)
    «Bloß unser Tom kommt nicht wieder», sagte Oma.
    «Vielleicht auch ’n Waffenstillstand», warf Walter ein.
    Albert verzog die Lippen und schüttelte den Kopf. «So weit sind sie noch nicht. Der Deutsche kämpft bis zum letzten Mann, das sage ich euch.» (Daily Mail)
    Sie warteten. «Wird wohl ’ne Weile dauern, bis sie wieder hier sind», meinte Opa. «Ich glaube, er war erst oben an der Derby Road.»
    «Crystal hat uns lange nichts vorgetragen», sagte Oma.
    Bei Crystal bedurfte es keines Zuredens. Sofort stand sie vor dem Kamin und fing mit lauter Stimme an zu deklamieren: «Kleinchens erstes Weihnachtsfest.» Neckisch stach der Zeigefinger in die Luft, die goldblonden Locken schwangen, der volle rote Mund lächelte schelmisch, nur die Augen blieben hart. «Weihnachtsglocken, süß und lind, erstes Fest für unser Kind.»
    Oma wischte sich eine Träne aus dem Auge. Opa hörte nicht zu; ihm machte die Enttäuschung über Nell noch zu schaffen. «Immer ein Zuhause für Toms Frau», hatte er zu ihr gesagt. Und so wurde es ihm gedankt!
    Albert und Edith saßen hochaufgerichtet da. Sie waren stolz auf ihre Tochter, und Albert war insgeheim überzeugt, daß er, Edith und Crystal es mit jeder dieser sogenannten musikalischen Darbietungen aufnehmen konnten.
     
    Für Benbow hatte auch der Krieg seine guten Seiten. Da war zum Beispiel die Leuchtplakette, die man während der Verdunkelung am Mantelaufschlag trug.
    Während sie durch die Nacht liefen, blickte er glücklich auf die kleine erleuchtete Scheibe herab. Seine eine Hand steckte fest in der seiner Mutter, die andere hob er dicht an das leuchtende Rund und beobachtete, wie seine Finger sich bleich und geisterhaft bewegten. Aufregend war das. Die Nacht um ihn war tiefschwarz, im ganzen belagerten Land gab es nur ein Licht: den winzigen Mond an seinem fest zugeknöpften Mantel. Es war ein

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