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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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bitte nach vorne kommen?«
    Angeführt von der Krüppelin, traten sechs Frauen aus der Versammlung vor. Ein Zug von Hexen mit runzligen Gesichtern, die entstellt waren von der Galle ihrer Jahre, und kleinen, gelben, gehässigen Augen. Sechs Weiber, sechs maskierten Echsen gleich, die tödlichen Atem verströmten. Das dumpfe Gemurmel der Menge brach jählings ab. Zu hören war nur noch das Quietschen und Scharren des ramponierten Rollstuhls, der dann vor der Kanzel haltmachte und langsam der Gemeinde zugekehrt wurde. Hilda Baxter, die ständige Begleiterin der Krüppelin, stand hinter ihr und hielt die Griffe des Stuhls fest umklammert. Eliza Williamson und Bess Snow standen neben ihr wie zwei Koffer aus einem Set, und hinter ihnen, links und rechts von der Kanzel, verliehen die winzige Hulga Vanders und die riesenhafte Kate Byrun der steinernen Schwesternschaft ein reichlich unsymmetrisches Aussehen. Jede der Frauen bedachte Poe mit einem vertraulichen Nicken, worauf sie sich der nun wieder sitzenden Gemeinde zuwandten und schweigend etwelche Gegenstimmen herausforderten. Wilma Eldridge fummelte an ihrem Kruzifix und massierte den silbernen Christus, bis er warm wurde.
    »Brüder und Schwestern, offenbar hat Satan eine Distel in Gottes Boden gepflanzt.«
    »A-men«, sagten die fünf Frauen im Chor, und die Claque stimmte das Echo an.
    »Und offenbar müssen wir diese Distel finden und aus der Erde reißen.«
    »A-men!«
    »Brüder und Schwestern des Propheten Jonas Ukulore, ich weiß, wo sie wächst! Diese Distel! Dieses Unkraut! Ich weiß es!«
    »A-men!«
    »Dies üble Unkraut, verderblich und ansteckend! Ich kenne es! Dies üble Unkraut, dessen unzüchtige Arme begehrlich in die Herzen unserer Häuser greifen!«
    »A-men! A-men!«; babbelten die Männer und Frauen der Gemeinde mit wachsendem Nachdruck, obgleich nur wenige unter ihnen wußten, gegen wen sie da eigentlich Anklage erhoben.
    »Das Unkraut wurzelt tief, und schwarz sind seine Wurzeln. Blutrot ist seine dämonische Blüte!«
    »A-men!!«
    »Ja! Ukuliten! Ja! Soldaten des Herrn!«
    »A-men!!«
    »Dieses Unkraut wächst auf Hooper’s Hill! Gemeinsam müssen wir die Kraft finden, es auszureuten! A-men!!«
    »A-men!«
    Sämtliche Frauen erhoben sich, dürre harte Hände vor schwellenden Brüsten gefaltet. Die Verheirateten sahen ihre Männer an, und die Missetäter unter diesen waren die ersten, die sich erbötig machten. Hämisches Lächeln glitt über die Münder der Frauen. Wilma Eldridge schlug auf die Armlehnen ihres Rollstuhls, und Poe hämmerte auf seine Bibel ein, bis die vier Fäuste alle im gleichen bedrohlichen Rhythmus pochten. Und bald dröhnte das Tal vom mannigfaltigen Bumm! Bumm! Bumm!, das aller Fäuste aus Leder oder polierter Eiche schlugen. Bumm! Bumm! Bumm! klopfte auf dem Ruhmeshügel das Herz des Gotteshauses.
XV
    Cosey Mo lag zusammengesunken im prickelnd einsetzenden Morphiumrausch, die blutige Spritze, leergedrückt, zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie band ab. Das Prasseln des Regens verscholl für ihre Ohren zu einem fernen Murmeln. Wie ein wundersames Ei lag der schwere Schlag ihres Herzens warm in seinem feuchten blutroten Nest.
    Nackt auf der Sitzbank, bog sie sich dem Fenster zu, das über das Tal hinaussah, und schob den Vorhang beiseite. Sie richtete sich auf und zwang ihre Augen zur Konzentration. Ein Paar Scheinwerfer rutschten Hooper’s Hill hinan, und ihr Blick schweifte zur Uhr an der Wand. Zwölf Uhr mittag. Sonntag. In den letzten Wochen hatte sie sonntagnachmittags immer recht viel zu tun gehabt; trotzdem dünkte ihr zwölf Uhr reichlich früh.
    Noch immer nackt, jetzt auf dem Fußende ihres Bettes, legte Cosey ihr Makeup auf; die vormalige Schlaffheit ihrer Glieder zerging in eine Reihe oft geübter Bewegungen – ein schwarzer Strich, ein rosiger Fleck, ein Klecks parfümiertes Kirschrot, ein Tupfer Lavendel –, bis auch ihre schweren Lider und der mürrische Schmollmund wie durch Zauber lebendig wurden. Sie streifte ein Paar Strümpfe über, keine Strumpfhalter, und dann den rosa Morgenrock. Sie knöpfte ihn zu und schien gar nicht zu merken, wieviele Fahrzeuge inzwischen vor ihrem Wohnwagen angehalten hatten.
    Sie warf einen Blick in den Spiegel, dann auf die Uhr, holte tief Luft und öffnete die Tür; die Brüste hoben und schoben sich in ihrem knappen Mantel. »Na, wer ist denn unser Frühaufsteher?« neckte sie in den trommelnden Regen. Und stand, auf den Fersen schaukelnd, vor und zurück, an den

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