Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
Vom Netzwerk:
schwachsinnich, Prediger!« kreischte Fists … und ich streckte die Hand aus, stieß sie ihm in den Rachen, riß ihm die Zunge mitsamt der Wurzel raus und klatschte dem fetten kleinen Drecksack den ganzen zuckenden blutigen Klumpen grünen Fleischs in die entsetzten Hände … aber nein, das tat ich nicht. Nein, das tat ich nicht. Statt dessen sah ich nach oben in Poes schreckliches Gesicht. Er starrte mich dermaßen durchdringend an, daß es mir schier mulmig wurde. Und dann sah ich, direkt vor meinen Augen, wie seine Miene sich dramatisch änderte. Die grausame blutrote Narbe verblaßte zu einem fahlen Violett, und seine Geieraugen wurden glasig und hell – zugleich aber auch dunkel, als ob das Höllenfeuer, das dahinter gewütet hatte, sich verzehrt hätte und nur mehr vor sich hin schwelte. Seine Stimme klang mit einem Mal ganz hohl, und als er zu mir sprach, war es, als rede er jemanden in meinem Innern an. Angesteckt vom Stimmungswandel des Predigers, drängte die Menge mit offenen Mündern näher.
    »Sehet, ein Kind, des Geist nicht reden kann. Wie lange mag dieser nutzlose Geist schon in ihm wohnen? Ich sage: lebenslang! Ich sage: womöglich schon zehn Jahre lang ist er mit Stummheit geschlagen.«
    »Falsch. Dreizehneinhalb«, dachte ich.
    »O gottlose Generation, wie lange muß ich Euch leiden?« rief Poe.
    »Wie lange muß ich dich leiden?!« rief ich in meinem Innern.
    »Ich bin der Geist Elias’«, fuhr Poe dräuend fort, »ein wenig Säubern, ein wenig Heilen, ein wenig Rufen in der Wüste.«
    Die Menge rückte näher, und ich suchte verzweifelt nach einer Lücke in den dichten Reihen.
    »Wenn du glauben kannst, ist alles möglich. Ist dein Glaube aufrichtig?« fragte der Prediger ins Blaue hinein, und einige – die nicht so recht wußten, wen er eigentlich ansprach – sagten »Ja« und »Das ist er«.
    »Dann, stummer Geist, befehle ich dir! Fahre aus diesem Kind und komme nicht wieder!« schrie Poe.
    Und, nun ja, in meinen Eingeweiden grummelte es, und plötzlich wußte ich – ich wußte einfach, daß ich gleich reden würde – ja, ich wußte es – und das Grummeln fraß sich in meine Brust und quoll mir durch die Stimmritze bis in den Mund, und ich spuckte aus allen Kräften. Ein dicker Klumpen Rotz traf Abie Poe am rechten Knie, schwang grünlich hin und her, tropfte dann ab, schlierte ihm ekelhaft über den Fuß und verschwand zwischen seinen Zehen.
    Ich knirschte mit den Zähnen. Ich schäumte. Ich geiferte. Ich schüttelte wild den Kopf, und plötzlich standen mir sämtliche Worte, die ich je hatte sagen wollen, zur Verfügung, drängten sich alle heran, um jetzt, da mein Körper von dem stummen Geist befreit war, als erste ausgesprochen zu werden.
    Die Menge wich zurück, ging auseinander, teilte sich: und ich bockte und wieherte und trat, schlug mir an die Brust, verdrehte die Augen und schickte mich an, »Halleluja! Preiset den Herrn im Himmel für Seine Gnade!« zu schreien, und wälzte mich weinend und lachend und weinend in einer Pfütze.
    Die Leute wichen mit finsterem Kopfschütteln langsam zurück und murmelten Dinge, die ich nicht hören konnte, denn schon war ich unter verzweifeltem Strampeln und Kraxeln und Zerren ein Stück weit den Hügel raufgekommen – und hatte die Menge um einiges hinter mir gelassen.
    Nackt und atemlos lag ich im Gras und sah sie müde dem Weg nach Hause zutrotten; mit einer Hand glättete ich das nasse Gras unter meinem Kinn, drehte den Kopf zur Seite und ließ ihn sachte sinken, drückte das Ohr auf den schlammigen Boden und lauschte dem Regen, der lärmend um mich niederprasselte.
XI
    Ich erinnere mich an eine Zeit der Eudämonie. Eine Zeit, da die Himmel azuren waren und gestreift mit Zirrusschleiern – falls sie nicht gerade den Rumpf eines wattigen Kumulus über ihre unendlichen Wasser trugen. Eine Zeit, da der schrille Gesang der Zikade das Tal erfüllte und das leise Säuseln der Zeder sich in die gedämpft und unablässig murmelnde Begleitung des Zuckerrohrs mischte. Eine Zeit voll Kieferndufts und Orangenblüten. Da Irrlichter und Elmsfeuer in Farn und Dickicht glommen. Da der summende Hauch des Sommers die Wange seichter Gewässer streifte und alle Binsen schwanken machte. Ich erinnere mich an eine Zeit, da Jahre sich in vier Jahreszeiten teilten, da aus Tag Nacht wurde. Eine Zeit von Morgen- und Abenddämmerungen und Sonnen und Monden. Da das ganze Grün des Tals dem Fest der Einsammlung entgegenarbeitete, der generösen Ernte und dem Lohn

Weitere Kostenlose Bücher